»In der Mensa berechnete mir neulich die Kassiererin deutlich zu wenig. Mein erster Impuls war, etwas zu sagen, aber dann unterdrückte ich diesen. Ich hatte das Gefühl, die Kassiererin vor den anderen Wartenden bloßzustellen, und das schien mir den vergleichsweise geringen Betrag nicht wert. Hätte ich sie trotzdem auf den Fehler hinweisen sollen?« Michael F., München
Ihre Frage lässt sich auf drei Ebenen betrachten. Auf der ersten Ebene sehe ich es als erfreulich an, dass Sie sich Gedanken nicht nur über die direkten Wirkungen Ihrer Handlungen machen, sondern auch über deren weitergehende Wirkungen. Zudem stellen Sie nicht die Korrektheit an erste Stelle und damit absolut über das Wohl der Mitmenschen.
Auf der zweiten Ebene würde ich diese Haltung allerdings dem Lackmustest der Spiegelung unterziehen: Würden Sie dieselbe Rücksicht auch walten lassen, wenn Ihnen nicht zu wenig, sondern zu viel berechnet worden wäre? Schließlich wäre die Bloßstellung der Kassiererin in diesem Fall noch größer, erschiene sie doch den hinter Ihnen Wartenden als jemand, die den Kunden übervorteilt, was diese Kunden regelmäßig stärker verübeln als den umgekehrten Fall.
Deshalb möchte ich auf der dritten Ebene auf eine andere Fernwirkung Ihrer Handlung abstellen, die ich für wichtiger halte: die Bestätigung des Moralgefühls. Jeder, der sich beschwert, weil ihm zuwenig berechnet wurde, hinterlässt einen starken Eindruck auf alle, die das mitbekommen. Besonders schön sieht man das, wenn Sie zunächst sagen: »Das kann nicht stimmen« oder »Das stimmt nicht«. Sie werden bei den Betroffenen zunächst eine fast reflexartige Abwehrhaltung feststellen, weil üblicherweise Beschwerden nur erhoben werden, wenn jemand zu viel bezahlen soll. Umso größer ist dann aber die Wirkung, wenn Sie darauf hinweisen, dass Ihnen zu wenig berechnet wurde. Man sieht förmlich die Überraschung und wie eine erfreute Entspannung Einkehr hält: die Erkenntnis, dass nicht jeder einen Irrtum seines Gegenübers für den eigenen Vorteil nutzt. Das zählt mehr, als die Aufdeckung eines kleinen Fehlers bloßstellt, und ist eine wunderbare Moral-PR, die ich naturgemäß sehr begrüße.
Literatur:
Bei der Spiegelung auf der zweiten Ebene handelt es sich um eine Philipps’sche Spiegelung, benannt nach dem Münchner Rechtsphilosophen Lothar Philipps.
Lothar Philipps hat Spiegelungen, ohne ihnen eine spezielle Arbeit zu widmen, in verschiedenen Aufsätzen behandelt. Beispielsweise in: Eine juristische Datenbank für Probleme und Argumente. In: Arthur Kaufmann, Ernst-Joachim Mestmäcker, Hans F. Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde. Festschrift für Werner Maihofer zum 70. Geburtstag, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1988, S. 355-369
Strafrechtsprobleme in der Ästhetik des Kriminalromans. In: Heike Jung (Hrsg.), Das Recht und die schönen Künste, Heinz Müller-Dietz zum 65. Geburtstag, Nomos Verlagsgesellschaft Baden_baden 1998, S. 189-203 dort mit weiteren Nachweisen zur Theorie der Symmetrie bei Fn. 3 und 4
Täter und Teilnahme, Versuch und Irrtum. Ein Modell für die rechtswissenschaftliche Analyse. In: Rechtstheorie Bd. 5 (1974), S. 129-146
Ein Verzeichnis seiner Schriften findet sich als Anhang des von Bernd Schünemann, Marie-Theres Tinnefeld und Roland Wittmann herausgegebenen Bandes „Gerechtigkeitswissenschaft - Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstags von Lothar Philipps“ Berliner Wissenschafts-Verlag 2005
2012 erschien ein Sammelband mit Rechtslogischen Aufsätzen von Lothar Philipps: Endliche Rechtsbegriffe mit unendlichen Grenzen, Anthologia, Edition Weblaw, Bern 2012
Eine ausführlichere Darstellung der Philipps’schen Spiegelung findet sich im Kapitel „Was du nicht willst... Die Goldene Regel und ihre Schwächen“ in meinem Buch „Nachdenken über Moral. Gewissensfragen auf den Grund gegangen“, Fischer Verlag 2012 auf S. 144ff.
Lothar Philipps hat darauf reagiert in einer Besprechung: „Regeln der Moral – Gedanken zu einem Buch von Rainer Erlinger“, Pravnik (Nachfolger der Slovenain Law Review), 132 (2015) 7-8, S. 559-564, in der er vorschlägt, die nach ihm benannte Spiegelung besser nach Robert Musil zu benennen, der in der Prosasammlung „Nachlass zu Lebzeiten“ Überlegungen zu spiegelbildlich angeordneten Situationen in Romanen und im Leben angestellt hat.
Illustration: Serge Bloch