»Vor einem Konzert hatten sich lange Schlangen vor den Toiletten gebildet. Bei den Damen etwa 50 Frauen und bei den Herrenkabinen ebenfalls rund 30 Frauen. Hätte ich mich als Mann, wenn ich eine Kabine brauche, dort hinten anstellen müssen (und so den Konzertbeginn verpassen) oder, da es ja die Herrentoilette war, an den Damen vorbei nach vorne gehen dürfen?« Tobias K., Rosenheim
Die geschlechtsspezifischen anatomischen Unterschiede der äußeren Harnorgane schlagen sich bei Männern in einem logistischen Vorteil beim Wasserlassen nieder. Sie können das, speziell im öffentlichen Bereich, meist an einfacheren Einrichtungen, im Stehen und schneller erledigen. Derartige Unterschiede sind, in den Worten des amerikanischen Philosophen John Rawls, auch dann, wenn sie Vor- und Nachteile bieten, weder gerecht noch ungerecht, sondern »einfach natürliche Tatsachen«. Jedoch: »Gerecht oder ungerecht ist«, so Rawls, »die Art, wie sich Institutionen angesichts dieser Tatsachen verhalten.« Wenn also Institutionen, hier in Form der Konzertveranstalter oder der Behörden, die Bauvorschriften für Veranstaltungsorte erlassen, die Anzahl der Toiletten so verteilen, dass Frauen wesentlich länger warten müssen als Männer, ist das ungerecht.
Die Aufrechterhaltung der strikten Trennung nach Herren- und Damentoiletten perpetuiert diese Ungerechtigkeit und ist – außer bei Pissoirs – nur begrenzt sinnvoll, da, wer eine Kabine aufsucht, sich für gewöhnlich nicht im Vorraum entblößt, sondern hinter der verriegelten blickdichten Türe. Noch dazu haben hier die Damen, deren Schutz häufig als Begründung für getrennte Toiletten dient, selbst – halb freiwillig, halb notgedrungen – auf diesen Schutz verzichtet und dank ihrer Vielzahl kaum Übergriffe zu befürchten.
Ich kann keinen triftigen ethischen Grund erkennen, warum Frauen wegen ihres Geschlechts ein größeres Risiko tragen sollten, den Konzertbeginn zu verpassen, als Männer. Deshalb, auch wenn es aus männlicher Sicht betrüblich erscheinen mag: Sich hier als Mann auf seinen unverdienten und ungerechten institutionellen Vorteil zu berufen und an den wartenden Damen in der Herrentoilette vorbei nach vorne zu gehen, mag zwar formal richtig sein, inhaltlich ist es falsch.
Literatur:
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1979, S. 123
Zur Soziologie der öffentlichen Toiletten und den Problemen, sie zu benutzen:
- Julie Beck, The Private Lives of Public Bathrooms: How psychology, gender roles, and design explain the distinctive way we behave in the world's stalls. The Atlantic Magazine, 16.4.2014
- Terry S. Kogan, How did public bathrooms get to be separated by sex in the first place? The Conversation, 27.5.2016
Einblicke in die Problematik der Geschlechterzuordnung von Toiletten gibt der vor allem in den USA mit absurder Härte geführte Streit über die Benutzung von Toiletten durch Transgender Personen und genderneutrale Toiletten. Dazu gibt es eine Unzahl von Artikeln. Im Folgenden ein paar, die einen Überblick bieten und versuchen, das Ganze einzuordnen:
- Alison Gash, What's the backlash against gender-neutral bathrooms all about? The Conversation, 4.4.2016
- Joshua Rothman, The Politics of Bathrooms. The New Yorker, 14.5. 2016
- Jeannie Suk, Who’s Afraid of Gender-Neutral Bathrooms? The New Yorker, 25.1.2016
- German Lopez, Anti-transgender bathroom hysteria, explained. Vox, 20.5.2016
Illustration: Serge Bloch