Eigentlich erscheint doch alles ganz einfach: Wenn Ihre Oma das Extrageld nur unter der Bedingung der Verschwiegenheit zahlt, ist es natürlich nicht richtig, es auszuplaudern; damit täuschen Sie sie absichtlich, um das Geld weiterhin zu erhalten. Andererseits hat sie selbst das Unheil ausgelöst, weil sie Ihren Bruder ohne triftigen Grund zurück-setzt und ihrerseits wiederum ihn darüber täuscht. Nach moralischen Maßstäben haben somit alle Beteiligten Unrecht begangen, ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt: durch Offenlegung.
Eigentlich. Aber soll man wirklich so kategorisch sein und das ganze Leben seinen Imperativen unterordnen? Ich glaube nicht, muss allerdings eine Warnung aussprechen: Achtung, Sie verlassen jetzt den ethisch gesicherten Sektor.
In seinem Buch Die Kunst des Liebens, das in keinem Rattanregal fehlen darf, unterscheidet der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm zwischen dem Archetyp der Mutterliebe, die jedes Kind ohne weitere Begründung erhält, und der väterlichen, die man sich erst verdienen muss. Daneben möchte ich noch eine dritte Kategorie einführen: die »Großmutterliebe«. Auch sie erhält man ohne Begründung und muss sie sich nicht verdienen; sie wird jedoch nicht gleichmäßig verteilt. Lieblingsenkel zu haben ist ein großmütterliches Privileg. Die Auswahl nahezu willkürlich zu treffen ge-hört ebenso zum ethischen Gewohnheitsrecht einer Oma wie etwa das heimliche Zustecken von Geld oder Süßigkeiten. Spiegelbildlich dazu gestattet sein gewohn-heitsethisch verbürgter Status dem Lieblingsenkel zu tun, was er für richtig hält. Das Charakteristische an der Oma-Lieblingsenkel-Liebe ist, dass sie von derartigen Eskapaden nicht geschmälert wird, denn die Großmutter mag ihren Favoriten nicht für das, was er tut, sondern schätzt umgekehrt, was immer er auch anstellt.
Legt man nun diese ungeschriebenen Regeln zugrunde, handeln Sie nicht falsch. Allerdings auch nur dann.
Die Gewissensfrage
»Unsere Oma schenkt meinem Bruder und mir öfter Geld, jedem denselben Betrag. Heimlich steckt sie mir jedoch immer noch mal genauso viel zu. Ganz offensichtlich zieht sie mich vor. Sie fordert mich auf, Stillschweigen zu bewahren, so dass ich glaube, sie gibt das Geld nur in der Annahme meiner Verschwiegenheit. Ich teile aber stets mit meinem Bruder, ohne dass sie es erfährt. Handle ich falsch?« ALEX T., MÜNCHEN