Die Gewissensfrage

»Da ich nur 1,60 Meter messe, setze ich mich im Theater auf meine zusammengelegte Jacke, wenn mein Blick allzu schlecht ist. Ich achte aber darauf, nicht höher zu sitzen als jemand mit einer Durchschnittsgröße. Letztens hat mich die Person hinter mir aufgefordert, mich bitte wieder nach unten zu setzen, sie würde nun weniger sehen. Ist es aus moralischer Sicht zu vertreten, dass ich mir diesen Vorteil verschaffe? Oder muss ich meine geringe Körpergröße und somit die schlechtere Sicht akzeptieren?« HILDEGARD L., BERLIN

Wenig überraschend stellen sich Fragen der Sicht je nach Blickwinkel höchst unterschiedlich dar. Der hinter Ihnen könnte sagen, er müsse notgedrungen akzeptieren, sollte ein Hochgewachsener vor ihm sitzen; deshalb will er umgekehrt auch davon profitieren, falls er problemlos über den Vordermann hinwegsehen kann. Der Riese bedeutet Pech für ihn, Sie bedeuten Glück, über den Zufall gleicht sich alles aus. Deshalb möchte er verständlicherweise nicht, dass Sie dieses Spiel zu seinen Ungunsten verändern. Sie dagegen wollen da nicht mitspielen, weil Sie immer verlieren und nichts weiter anstreben, als so viel zu sehen wie Otto Normalgroßer. Beides klingt berechtigt. Was nun?Eine Lösung findet sich in einem der interessantesten moralphilosophischen Bücher des 20. Jahrhunderts: Eine Theorie der Gerechtigkeit. John Rawls vertritt darin unter anderem die These, dass wahre Gerechtigkeit nicht darin bestehe, lediglich allen die gleichen Chancen – hier also Sitzhöhe – einzuräumen, sondern es darüber hinaus notwendig sei, zufällige – hier größenmäßige – Vor- und Nachteile auszugleichen. Er meint, »das Ergebnis der Lotterie der Natur« sei »unter moralischen Gesichtspunkten willkürlich«, deshalb sei es Aufgabe der Gesellschaft, für einen Ausgleich zu sorgen.Natürlich kann man darüber wie immer in der Philosophie streiten, ebenso über die Auswirkung der Körpergröße auf das Leben. In Ihrer Situation als Zuschauerin scheint es mir aber klar: Kleiner zu sein bedeutet hier schlechtere Sicht und damit einen Nachteil, den auf Dauer tatenlos zu ertragen man Sie nicht verpflichten kann. Deshalb muss Ihr jeweiliger Hintermann als Teil der Gesellschaft quasi stellvertretend für alle an einem Ausgleich mitwirken – indem er Ihre Höhenanpassung hinnimmt.