Die Gewissensfrage

Meine Nachbarin bat mich neulich, mein schnurloses Telefon abzuschaffen, da die Strahlung auf Dauer schädlich sei. Seit ein anderer Nachbar sein Telefon auf ihre Bitte abgeschaltet habe, gehe es ihr gesundheitlich besser. Obwohl es nach meinen Informationen keine wissenschaftlichen Beweise für eine schädigende Wirkung gibt, würde sich meine Nachbarin, die fest daran glaubt, bestimmt wohl fühlen, wenn auch ich mein Telefon abschalten würde. Soll ich ihr diesen Gefallen tun? Maria T., STUTTGART

Ihre Frage gibt mir die Möglichkeit, ein altes Anliegen zu erläutern. Um damit in die Annalen der Moralphilosophie einzugehen, möchte ich es amplitudendifferenzgesteuert-utilitaristisches Subjektivierungsprinzip nennen.Was meine ich damit? Ihr Telefon ist vermutlich zugelassen und hält die offiziellen Grenzwerte ein. Das Rechtssystem hat die Funktion, die Interessen der Einzelnen in Einklang zu bringen, hier also die Ihrer Nachbarin nach möglichst wenig Strahlung und die Ihren nach Bequemlichkeit beim Telefonieren. Da beides nicht zusammenpasst, müssen die Interessen gegeneinander abgegrenzt werden; eben durch »Grenzwerte«, welche der Staat, an sachlichen Untersuchungen orientiert, möglichst objektiv festlegt. Damit sind Sie nicht nur »im Recht«, sondern objektiv betrachtet auch moralisch berechtigt, ein solches Telefon zu verwenden. Und an dieser Stelle möchte ich einhaken: Wenn nämlich durch eine objektiv richtige Regelung der eine in seinem persönlichen Empfinden (subjektiv) besonders stark (mit großer Amplitude, also großem Ausschlag) beeinträchtigt ist und der andere nach seinem Empfinden (wieder subjektiv) daraus keinen besonders hohen Nutzen (geringe Amplitude) zieht, der Unterschied im Ausmaß der empfundenen Beeinträchtigung bzw. des Nutzens (die Amplitudendifferenz) also sehr groß ist, sollte im Sinne einer Maximierung des Nutzens für alle (das Prinzip des Utilitarismus) von der objektiven Betrachtungsweise abgewichen (subjektiviert) werden. Mit anderen Worten: Wenn dem einen etwas besonders wehtut, auf das zu verzichten dem anderen überhaupt nicht schwer fällt, kann man das von ihm verlangen. Psychisches Wohlbefinden hat auch Gewicht in der Waagschale.Das bedeutet für Sie: Wenn Ihre Nachbarin wirklich leidet und für Sie ein Schnurtelefon kein großes Opfer darstellt, erweisen Sie ihr den Gefallen. Sonst funken Sie weiter.