Die Gewissensfrage

»Als Außendienstlerin besuche ich oft mit dem Auto Kunden in Großstädten. Neulich bekam ich in Nürnberg einen Parkplatz direkt am Bahnhof. Nach meinem Kundentermin hatte ich noch Zeit, bevor ich weiterfahren musste, und habe begonnen, im Auto zu lesen. (Auf der Parkuhr war noch ›was drauf‹.) Nun dachten offensichtlich einige Parkplatzsuchende, ich sei dabei auszuparken und stellten sich blinkend hinter mich. Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich auf einem dieser begehrten Innenstadtparkplätze meine Zeit überbrücke, obwohl andere offensichtlich den Parkplatz dringender benötigen? KAREN P., MÜNCHEN

Allzu viel Einfühlungsvermögen braucht man hier nicht, um die Position des anderen zu verstehen; blinkender Hintermann war jeder schon einmal. Parkplätze in der Innenstadt sind so rar, dass sie nicht nur als gegenwärtige, sondern auch als zukünftige, lediglich mögliche begehrt werden. Es genügt ein Fußgänger, der zielstrebig auf ein parkendes Auto zugeht und schon ist man bereit, einen Parkplatz-Future-Bond zu zeichnen, Investitionen zu tätigen: notfalls verbotswidrig wenden, stehen bleiben, blinken, warten. Umso mehr, wenn schon jemand im Wagen sitzt, das Wegfahren also greifbar nahe scheint. Getreu der goldenen Regel – Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu – müssen Sie also anders handeln. Nur wie? Wegfahren? Verschwinden? Sich in Luft auflösen? Dem Wartenden ist das gleich. Sein Interesse für Sie endet buchstäblich an der nächsten Stoßstange. Sie aber brauchen eine Alternative, ganz konkret für Ihr Handeln. Und auch ein schlechtes Gewissen setzt voraus, dass Sie sich hätten besser verhalten können. Aber das gestaltet sich schwierig. Es bringt nichts loszufahren, wenn Sie noch nirgends hinmüssen: Sie stehen dann nur woanders rum. Runden drehen scheidet aus, und wenn Sie sich statt ins Auto in ein Lokal setzen, bleibt der Parkplatz trotzdem besetzt. Logisch betrachtet verhalten Sie sich also völlig korrekt; dennoch bleibt es irgendwie provokant. Das sollte man möglichst vermeiden und in dieser Hinsicht gibt es in der Tat Alternativen: Im Sommer sitzt man auf der Parkbank ohnehin schöner, in einem Kaffeehaus das ganze Jahr. Und wenn tatsächlich einmal das Auto die einzige Möglichkeit darstellt, würde man auf dem Beifahrersitz weniger falsche Hoffnungen wecken. Zu so viel Rücksichtnahme auf die Psyche anderer mag man nicht verpflichtet sein, eine Überlegung wert ist es aber allemal.