Die Gewissensfrage

»Ich habe neulich bei einem Versandhaus einen Pullover für einen Freund bestellt, der direkt an ihn geschickt wurde. Die Rechnung sollte zu mir kommen, ist aber bis heute nicht eingetroffen. Bin ich moralisch verpflichtet, die Firma um die Rechnung zu bitten? Schließlich habe ich ja ein Produkt in Anspruch genommen. Andererseits ist es doch Sache des Händlers, sich um seine Buchhaltung zu kümmern.« KARIN D., HOF

Warum sollten Sie ein schlechtes Gewissen haben? Schließlich gibt es keine rechtliche Verpflichtung, die Rechnung anzumahnen! Aber ist alles, was innerhalb des gesetzlichen Rahmens abläuft, deshalb auch moralisch richtig, wie der häufig gehörte Satz »Das ist mein gutes Recht« vermuten lässt? Das Problem liegt also wieder einmal im Verhältnis zwischen Moral und Recht. Der große österreichische Rechtstheoretiker Georg Jellinek prägte dazu 1872 in seiner philosophischen Dissertation an der Universität Leipzig die vielzitierte Formulierung vom ethischen Minimum: »Das Recht ist nichts anderes als das ethische Minimum. Objektiv sind es die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft, soweit sie vom menschlichen Willen abhängig sind, also das Existenzminimum ethischer Normen, subjektiv ist es das Minimum sittlicher Lebensbetätigung und Gesinnung, welches von den Gesellschaftsgliedern gefordert wird…Das Recht verhält sich nach dieser Auffassung wie der Teil zum Ganzen, wie das Fundament zum Gebäude…« Die Gesetze stellen demnach nur den äußersten Rahmen der Handlungsmöglichkeiten dar, den zu überschreiten die Gesellschaft auf keinen Fall tolerieren kann. Wie man sich innerhalb dieses Rahmens verhält, muss man selbst verantworten. Das damit abgesteckte Areal wird aber deshalb noch lange nicht zum Spielfeld, auf dem man sich dann guten Gewissens mit Ellenbogen seinen Vorteil sichern oder auf das Glück hoffen darf, dass der andere einen Fehler macht.Im Endeffekt haben wir es hier mit einer abgewandelten Wechselgeldfrage zu tun. Soll man zu viel erhaltenes Wechselgeld monieren? Ja, denn es steht einem nicht zu; man hat es nicht fair erworben, sondern nur durch die Ungeschicklichkeit des anderen zufällig in die Hand bekommen. Das gilt für den falsch herausgegebenen Geldschein genauso wie beim Vorteil dank einer vergessenen Rechnung. Und beim kleinen Laden genauso wie beim großen Versandhaus.