Die Gewissensfrage

»Über Ebay habe ich unlängst für mich und drei Freunde Konzertkarten ersteigert. Nun waren zwei der Karten deutlich günstiger als die anderen, woraus sich für mich die Frage der korrekten Verteilung ergibt: Soll ich die beiden günstigeren Karten an diejenigen meiner Freunde weitergeben, die tatsächlich deutlich weniger Geld verdienen? Oder soll ich für alle vier Besucher (inklusive meiner selbst) denselben Preis kalkulieren? Gerechter fände ich letztere Lösung, fairer aber die erste.« MICHAEL S., CHEMNITZ

Sie verwenden eine Gegenüberstellung, die mich ein wenig stutzig macht: gerecht und fair. Stutzig deshalb, weil eines der einflussreichsten Bücher zu diesem Thema Gerechtigkeit als Fairneß heißt und der amerikanische Moralphilosoph John Rawls darin die beiden Begriffe umgekehrt gerade zusammenführt. Dabei glaube ich zu verstehen, was Sie damit meinen: Als gerecht sehen Sie, alle gleich zu behandeln, fair hingegen, diejenigen zu unterstützen, die weniger haben. Jedoch auch wenn sich das zunächst recht überzeugend anhört, kann ich mich Ihrer offenbar zugrunde liegenden Auffassung, dass Gerechtigkeit vor allem aus Gleichbehandlung besteht, nicht anschließen.Schon Aristoteles, der Urvater der Gerechtigkeitsethik, unterschied in seiner Nikomachischen Ethik zwei Grundformen: Die ausgleichende Gerechtigkeit und die Verteilungsgerechtigkeit. Erstere habe beim Verkehr zwischen den Menschen zu gelten, zum Beispiel beim Handel sowie bei der Strafe. Dort müsse, so Aristoteles, die Gerechtigkeit eine arithmetische sein, das heißt, jeder soll möglichst gleich behandelt werden, denn »es macht nichts aus, ob ein anständiger Mensch einen schlechten beraubt oder umgekehrt«. Auch sollte ein Kaufpreis in der Mitte zwischen Gewinn und Schaden liegen. Anders bei der Verteilungsgerechtigkeit: Hier soll das zu Verteilende nicht in identischen Mengen aufgeteilt, sondern in sinnvoller, geometrischer Relation zum Empfänger stehen; es sollen gerade nicht »Gleiche Ungleiches oder Ungleiche Gleiches« erhalten.Was bedeutet das für Ihre Frage? Obwohl es um den Preis der Karten geht, steht nicht mehr der Kauf im Mittelpunkt, sondern die Verteilung. Die aber kann sich nach oben Gesagtem statt an der Anzahl der Konzertbesucher proportional an den finanziellen Möglichkeiten orientieren. Im Sinne Aristoteles’ wäre diese Lösung damit sowohl fair als auch gerecht.