Die Gewissensfrage

»Wir waren mit einigen Leuten, darunter einem türkischen Freund, an einem Badesee zum Schwimmen. Um mir die Verrenkungen mit Handtuch als Sichtschutz zu ersparen, habe ich mich etwas abseits der Gruppe ungeniert umgezogen (Hose aus – Badeanzug an – T-Shirt aus – Träger hochziehen). Ich fand nichts dabei, zumal dort viele Frauen ›oben ohne‹ am See liegen. Aber am Abend sagte mir eine Frau aus der Gruppe, sie hätte sich in Anwesenheit des türkischen Mannes nicht auf diese Weise umgezogen und er habe angesichts meines nackten Hinterns etwas irritiert geschaut. Hätte ich mehr Rücksicht nehmen sollen?« CORINNA D., München

Ihre Überlegungen erinnern an zwei heiß diskutierte Themen: an den Kopftuchstreit – ob muslimische Schülerinnen oder Lehrerinnen in staatlichen Schulen Kopftücher tragen dürfen – und die Querelen um die Mohammed-Karikaturen. Auch dabei ging es um die Frage, wie viel Rücksicht man in einem liberalen Land auf andere Wertvorstellungen in ethni-schen und religiösen Gruppen nehmen muss – im Widerstreit mit persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit.

Allerdings würde ich bei diesen beiden Themen zögern, so bestimmt wie hier zu sagen: Nein, Sie hätten nicht mehr Rücksicht nehmen müssen! Ich sehe nämlich einen großen Unterschied; etwas, was ich mit »Wertbezogenheit« der Handlung bezeichnen möchte. Wer einer Frau das religiös gebotene Tragen ihres Kopftuchs verbietet, greift dabei in deren Religiosität ein, Entsprechendes unternimmt, wer den Propheten Mohammed in dessen Eigenschaft als Religionsstifter karikiert. Was keinesfalls ausschließt, dass dies durch andere Werte wie Meinungsfreiheit und die religiöse Neutralität des Staates erlaubt oder gar geboten sein kann. Nur liegen in diesen Fällen wegen der Religionsfreiheit die Anforderungen an eine Rechtfertigung höher. Bei Ihnen hingegen stehen Sie und Ihre Freizügigkeit im Mittelpunkt. Alle anderen sind Zuseher. Mancher mag sich dabei in seinen Werten beeinträchtigt fühlen, aber dazu muss derjenige Ihnen seine Maßstäbe überstülpen. Er mag Sie in der Hölle der Lästerlichkeit enden sehen, doch das ist Ihre Sache, vielleicht haben Sie’s gern warm; für sein eigenes Seelenheil reicht es aus, den Kopf wegzudrehen. Darüber hinaus stellen die persönliche und sexuelle Freiheit, besonders die der Frau, echte Errungenschaften unserer Gesellschaft dar, auf die Sie sich berufen und die Sie ruhig verteidigen dürfen.

Illustration: Jens Bonnke