Die Gewissensfrage

"Ich fahre täglich über die Autobahn von der Arbeit nach Hause. In der Regel staut sich zu dieser Tageszeit an einem Autobahnkreuz der Verkehr. Ich nehme die Abfahrt und biege dann aber nicht ab, sondern fahre nach dem Autobahnkreuz wieder auf dieselbe Autobahn auf. Somit komme ich an vielen wartenden Autos vorbei und muss weniger lange im Stau stehen. Ist das Verhalten unmoralisch, da ich mich nicht hinten in der wartenden Autoschlange anstelle?" Michael D., Leverkusen

Um ehrlich zu sein, auch wenn Sie nichts Verbotenes tun, Ihr trickreiches Vorgehen gefällt mir nicht. Relativ unproblematisch wäre es noch, wenn Sie wirklich den Stau umfahren. Falls Sie nach der Engstelle wieder auf die nun freie Autobahn kommen und nicht als Einfädler den Stau noch verstärken, schädigen Sie niemanden. Haariger wird es, wenn Sie sich auf diese Weise einfach weiter vorn in dieselbe Schlange einordnen. Dann müssen diejenigen, an denen Sie vorbeigezogen sind, länger warten und so direkt für Ihren Vorteil bezahlen – mag er noch so legal erworben sein.
Auch bei der Nagelprobe der Universalisierung gibt es ein paar Verwerfungen: Was, wenn das jeder macht? Für diese Überlegung muss man gar nicht so weit gehen, dass alle von einer dann verwaisten Autobahn abzweigen. Doch kann Ihr Trick nur funktionieren, wenn wenige so handeln wie Sie, sonst würden Ab- und Auffahrt genauso verstopft. Das verstärkt die Bedenken.Am meisten und entscheidend stoße ich mich jedoch an der Einstellung, die hinter der Aktion steht: dem Verlangen, möglichst immer das Beste für sich herauszuholen. Der griechische Philosoph Epiktet hat ein wunderbares Handbüchlein der Moral hinterlassen, in dem er stoische Gelassenheit empfiehlt: »Bedenke: Du musst dich im Leben wie bei einem Gastmahl verhalten. Wird etwas herumgereicht und es kommt zu dir, strecke die Hand aus und nimm bescheiden deine Portion. Ist etwas, das du gern hättest, noch nicht bei dir angekommen, richte dein Begehren nicht weiter von der Ferne darauf, sondern warte, bis die Reihe an dir ist.« Hält man das in Bezug auf andere Dinge des Lebens genauso, so würde man, meint Epiktet, »einst ein würdiger Tischgenosse der Götter sein«. Dafür nun, für die Göttertafel, dürfte Sie Ihre Vorfahraktion, bei der Sie weit nach vorn greifen, schwerlich empfehlen.

Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger, SZ-Magazin, Rindermarkt 5, 80331 München oder an gewissensfrage@sz-magazin.de.

Unser Kolumnist Rainer Erlinger erhält höhere Weihen: Von der Universität Augsburg wurde er für das Wintersemester auf die neu errichtete Ernst-Troeltsch-Gastprofessur berufen.

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