Man kann versuchen, diese Art spontaner Hilfsbereitschaft mit den klassischen Werkzeugen der Ethik zu untersuchen: Nach Kant etwa müsste man prüfen, was geschieht, wenn das Aufhalten zum allgemeinen Gesetz würde: Einerseits wäre kein Heraneilender mehr enttäuscht; andererseits könnte im Extremfall, falls an der Haltestelle nach und nach weitere Fahrgäste eintreffen, der Zug nie abfahren. Jedenfalls würden alle Fahrpläne Makulatur. Eine Berechnung von Nutzen und Schaden im Sinne des Utilitarismus wird schwierig: Addiert man die zusätzliche Wartezeit der einzelnen Fahrgäste, kommt womöglich weit mehr zusammen, als der Zurückgebliebene warten muss. Andererseits belasten jeden Einzelnen 10 oder 20 Sekunden Verzögerung der Abfahrt weniger als den einen 10 oder 20 Minuten bis zur nächsten Bahn.
Ein bisschen erinnern mich die Türaufhalter an einen Bankangestellten, der – um die Not in der Welt zu bekämpfen – nicht nur selbst spendet, sondern auch von den Konten der Kunden Geld überweist: Schließlich verdonnern die freundlichen Helfer in der S-Bahn die anderen Fahrgäste ungefragt zum Warten. Aus Sicht der Moral scheint also tatsächlich mehr gegen als für das Türenblockieren zu sprechen. Aber Ihr Einwand der kälter werdenden Gesellschaft lässt mich zögern: In der Tat halte ich die kommunikativen Aspekte von Handlungen, also die Botschaft, die von ihnen ausgeht, für sehr wichtig. Freundliches wie unfreundliches Verhalten ist ansteckend, pflanzt sich fort. Dem Herankeuchenden durch die sich schließende Tür den kategorischen Imperativ vorzuhalten taugt nicht gerade als Werbung für Moral und Hilfsbereitschaft – anders als die freundliche Geste des Aufhaltens. Deshalb erachte ich gegen alle Bedenken das Aufhalten der Tür vielleicht nicht in der Regel, aber doch in Einzelfällen als moralisch vertretbar. ---
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Illustration: Marc Herold