Die Gewissensfrage

Sollte man als Radfahrer der Trambahn ausweichen, auch wenn man – straßenverkehrsordnungstechnisch – nicht dazu verpflichtet ist?

»Ich habe als Radfahrer immer wieder ein Trambahnproblem: Wenn ich auf einer radweglosen Straße mit Trambahnschienen unterwegs bin und wegen parkender Autos am rechten Fahrbahnrand zwischen den Schienen fahre, muss die Tram hinter mir herzuckeln. Einige Tramfahrer klingeln mich dann heftig an, aber laut Straßenverkehrsordnung muss ich als gleichberechtigter Verkehrsteilnehmer nicht ausweichen. Allerdings kämen wesentlich mehr Menschen schneller an ihr Ziel, wenn ich es täte. Sollte ich?« Markus T., München

In seinem Sketch Der Zufall erzählt Karl Valentin, dass er mit einem Bekannten in der Neuhauser Straße über einen Radfahrer gesprochen habe und just in diesem Moment sei ein Radfahrer vorbeigefahren. Er hält das für einen Zufall, Liesl Karlstadt widerspricht jedoch und meint, in der damals noch sehr verkehrsreichen Neuhauser Straße sei das doch kein Zufall, weil laufend Tausende Radfahrer vorbeiführen. Ein Zufall sei vielmehr, wenn man von einem Ozeanflieger spreche und in dem Moment komme einer geflogen, was Valentin vehement zurückweist, weil er nun einmal von einem Radfahrer und nicht von einem Ozeanflieger gesprochen habe.

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Apropos Zufall: Zufällig wohne ich in einer Straße, in der es genau die Situation gibt, die Sie in Ihrer Frage beschreiben. Jedoch ist auch das genau genommen gar kein Zufall, weil ich diese Straße mag und deshalb dort eine Wohnung gesucht habe. In der Philosophie nennt man derartige Konstellationen Kontingenz: etwas, was möglich, aber nicht notwendig ist.

Normalerweise sind Kontingenzen und Zufälle bei moralphilosophischen Begründungen eher problematisch, schließlich soll die Antwort nicht davon abhängen, ob gerade ein Ozeanflieger vorbeikommt oder wo ich wohne. Doch hier scheinen sie von Vorteil zu sein, denn weil ich eben »zufällig« in einer Straße mit genau der Situation wohne, kenne ich beide Blickwinkel: den des Fahrgastes in einer Straßenbahn, die langsam hinter einem Radfahrer herschleicht, und den des Radfahrers, dem die Straßenbahn von hinten auf die Pelle rückt. Und man weiß im Sinne Karl Valentins, dass wegen der Häufigkeit der Radfahrer fast jede Straßenbahn auf Schleichfahrt gehen muss, während man als Radfahrer je nach Fahrplan nur alle zehn oder zwanzig Minuten von einer Tram verfolgt wird.

Und wenn ich schließlich die Einschränkung, die es bedeutet, mit dem Rad kurz an den Rand zu fahren und die Tram vorbeizulassen, mit dem Gewinn für die Fahrgäste vergleiche, scheint es mir aus Gründen der Rücksicht schwierig, sich stets auf sein zweifelsfrei bestehendes Recht als Verkehrsteilnehmer zu berufen und ungeniert weiterzufahren. Was aber nicht bedeutet, dass man immer und ausnahmslos zur Seite muss, denn auch die Interessen des Radfahrers verdienen es, berücksichtigt zu werden.

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Interessant zu diesem Thema:

Gereon Wolters, Kontingent/Kontingenz, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 1995, Band 2

Manfred Stöckler, Zufall, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Felix Meiner Verlag Hamburg 1999

Karl Valentin und Liesl Karlstadt, Der Zufall, Zu hören zum Beispiel in: Karl Valentin Gesamtausgabe Ton / 1928-1947, Trikont 2002, Disk 1

Illustration: Marc Herold