Die Gewissensfrage

Eigentlich möchte man lieber legere Kleidung tragen, doch da der Chef Wert darauf legt, bindet man sich jeden Morgen eine Krawatte um. Notwendige Anpassung oder schleimige Unterwerfung?

»Ich bin Berufsanfänger. Als ich zu arbeiten begann, hieß es, dass mein Abteilungsleiter seine Mitarbeiter gern in Anzug und Krawatte sieht. Also kleide ich mich entsprechend. Dabei ist das Äußere in meinem Job nicht wichtig, es gibt keinen Kundenkontakt. Kollegen anderer Abteilungen kommen lässiger ins Büro. Ich unterwerfe mich also gegen meinen Willen Erwartungen, die nicht einmal explizit an mich herangetragen wurden. Leiste ich damit der Tendenz Vorschub, Arbeitnehmer zu willenlosen Befehlsempfängern zu degradieren? Wäre es moralisch geboten, keine Krawatte zu tragen?« Anton K., Münster

Eine liebe Freundin, die von diesem Thema wirklich etwas versteht, sagte einmal zu mir: In einem guten Anzug sieht jeder Mann ein bisschen aus wie James Bond. Auszusehen wie James Bond schadet keinem Mann, auch nicht im Beruf. Ich persönlich muss bei vielen Anzugträgern eher an Heinz Erhardt denken. Aber das ist wohl mehr eine Frage der Qualität des Anzugs als der Moral.

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Die kommt ins Spiel, wenn Sie den Anzug allein in der Absicht tragen, einen Karrierevorteil zu erlangen. Worin der auch immer begründet sein mag, nachdem Mark Zuckerberg im Kapuzenpulli 16 Milliarden Dollar an der Börse erzielt und Steve Jobs im schwarzen Rollkragenpullover das wertvollste Unternehmen der Welt geschaffen hat. Dennoch spräche wenig gegen den Anzug, wenn Sie damit niemandem schaden. Das könnte jedoch der Fall sein, wenn das Kleidungsspiel tatsächlich bei Ihrem Abteilungsleiter zieht, und andere, die nicht mitspielen, benachteiligt. Andererseits hindert die niemand daran, sich auch einen Schlips umzubinden. Nur werden sie durch Ihr Verhalten zu diesem Spiel gezwungen – und da wird’s schon kritisch.

Vor allem aber sehe ich hier zwei meiner Lieblingsthemen betroffen: die persönliche Integrität und die Würde. Wenn Ihnen das Schlipstragen wirklich widerstrebt und Sie es dennoch jeden Tag tun – noch dazu ohne sachlichen Grund –, verletzen Sie Ihre persönliche Integrität: Sie verbiegen sich, handeln gegen Ihre eigene Einstellung und beschädigen damit Ihre Persönlichkeit. Und wenn Sie das nur machen, um Ihrem Abteilungsleiter zu gefallen, trifft die Sache nicht nur Sie, sondern, da Sie ein Mensch sind, die Menschheit in Ihrer Person, wie Immanuel Kant in seiner Metaphysik der Sitten unter der Überschrift »Von der Kriecherei« (!) ausführt. Dort meint er, »die bloß als Mittel zur Erwerbung der Gunst eines anderen (wer es auch sei) ausgesonnene Herabwürdigung seines eigenen moralischen Werts (Heuchelei und Schmeichelei) ist falsche (erlogene) Demut und, als Abwürdigung seiner Persönlichkeit, der Pflicht gegen sich selbst entgegen.« Und Kant beendet das Kapitel sehr plastisch, aber passend zu Ihrer Frage nach negativen Folgen dieses Handelns: »Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, wenn er mit Füßen getreten wird.«

Quellen:

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Tugendlehre. I. Ethische Elementarlehre 1. Teil 1. Buch 2. Hauptstück III. Von der Kriecherei. Akademie Ausgabe Band VI S. 434 – 437, online abrufbar zum Beispiel hier.

Zu den sozialen Rollen, die man im Alltag spielt – unter anderem durch Kleidung – nach wie vor grundlegend: Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. Piper Verlag München 7. Auflage 2009

Zur Integrität: Bernard Williams, Kritik des Utilitarismus, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1979

Arnd Pollmann, Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie. Transcript Verlag, Bielefeld 2005

Illustration: Marc Herold