»Bei einer Wanderung trafen wir auf eine stark sehbehinderte Frau, die uns nach dem Weg fragte. Da der Weg relativ problemlos war, haben wir ihr die Richtung gewiesen. Später sahen wir sie zu unserem Schreck an einer ziemlich gefährlichen Stelle. Wir machten sie auf die Gefahr aufmerksam und halfen ihr, die Stelle zu überwinden. Daraufhin wanderten wir weiter. Nach 30 Minuten passierten wir mehrere Stellen, die uns als gefährlich für die sehbehinderte Wanderin erschienen. Wären wir verpflichtet gewesen, zurückzugehen, um sie zu warnen?« Hanna L., Tübingen
Der Klassiker zur Hilfe gegenüber Fremden auf dem Weg ist die Erzählung vom barmherzigen Samariter im Lukas-Evangelium. Dieser gute Mensch fand einen von Räubern Niedergeschlagenen halb tot am Straßenrand liegen, brachte ihn in eine Herberge, pflegte ihn und bezahlte für ihn. So weit nichts wirklich Neues. Doch dann wird es interessant: Anschließend beauftragte der Samariter den Wirt auch noch mit der weiteren Pflege und sagte zu, diese später zu bezahlen. In der lateinischen Bibelfassung lautet die Stelle: »Curam illius habe, et, quodcumque supererogaveris, ego, cum rediero, reddam tibi.« Daraus entwickelte sich in der Theologie die allerdings umstrittene Unterscheidung zwischen dem, was man moralisch leisten muss – etwa Hilfe für einen Verletzten am Straßenrand –, und dem, was darüber hinausgeht – auch für seine weitere Versorgung zu bezahlen –, und eine Bezeichnung für dieses darüber Hinausgehende: supererogatorisch.
In der Moralphilosophie wird das Thema seit dem 1958 erschienenen Aufsatz des Philosophen James O. Urmson Saints and Heroes – Heilige und Helden diskutiert. Er meinte, ein »Heiliger« sei jemand, der gegen seine Neigung oder Interessen eine Handlung begehe, die weit jenseits der Grenzen seiner Pflicht liege, ein »Held«, wer es unter Bezwingung seiner natürlichen Furcht tue. Diese Taten seien abzugrenzen von dem, was die basic rules, die Grundregeln der Moral, von jedem fordern.
Daran möchte ich anschließen: Zu den basic rules gehört es, einem fremden Menschen in Not oder Gefahr zu helfen – ganz gleich, ob er oder sie diese Situation selbst verschuldet hat. Das wäre hier der Fall, wenn sich die sehbehinderte Wanderin verstiegen hat und ohne fremde Hilfe nicht mehr sicher zurückkommt. Dieser Forderung steht jeder gegenüber, das gehört zu den moralischen Pflichten. Anders sieht es aus, wenn die Wanderin mit ihrem Handicap eine Strecke antritt, auf der sie umkehren kann, wenn es zu schwierig und gefährlich wird. Dann ist es schön, ihr unter Hintanstellung der eigenen Pläne und Geschwindigkeit zu helfen, aber keine Pflicht. Als heilig würde ich das vielleicht noch nicht bezeichnen, aber eben als supererogatorisch.
Quellen:
Lukasevangelium in der Übersetzung der Luther-Bibel von 1984, Kapitel 10 Vers 25 ff. (Die in Latein in der Version der sogenannten Vulgata zitierte Stelle ist Vers 35):
Der barmherzige Samariter
Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5.Mose 6,5; 3.Mose 19,18). Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. (35) Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
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Artikel 14 der 39 Artikel des Bekenntnisses der Anglikanischen Kirche von 1571, in dem die Idee von supererogatorischen Handlungen abgelehnt wird:
Article XIV
Of Works of Supererogation
Voluntary works besides, over and above, God's commandments which they call Works of Supererogation, cannot be taught without arrogancy and impiety. For by them men do declare that they do not only render unto God as much as they are bound to do, but that they do more for His sake than of bounden duty is required: Whereas Christ saith plainly, When ye have done all that are commanded to you, say, We be unprofitable servants. De Operibus Supererogationis Opera quae Supererogationis appellant non possunt sine arrogantia et impietate praedicari. Nam illis declarant homines non tantum se Deo reddere quae tenentur, sed plus in eius gratiam facere quam deberent: eum aperte Christus dicat: Cum feceritis omnia quaecunque praecepta sunt vobis, dicte, Servi inutiles sumus.
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James O. Urmson: Saints and Heroes, in: A. Melden (Hrsg.): Essays in Moral Philosophy. Seattle: University of Washington Press, 1958. Der Text findet sich erstmals in deutscher Übersetzung (von Martin-Christoph Just) in der von Detlef Horster herausgegebenen und mit Einleitungen versehenen, sehr empfehlenswerten Textsammlung „Texte zur Ethik“, Reclam Verlag, Stuttgart 2012, S. 361-384. Detlef Horster gibt in seiner Einleitung zur Textsammlung auf S. 60-63 auch einen kurzen Überblick zur Supererogation.
David Heyd, "Supererogation", The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2011 Edition), Edward N. Zalta (ed.)
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Illustration: Serge Bloch