Die Gewissensfrage

In der Pause eines Symphoniekonzerts wird eine ältere Dame wegen ihres lauten Beatmungsgeräts aus dem Saal geführt. Ist das in Ordnung?

»Bei meinem letzten Besuch eines Symphoniekonzerts ärgerten sich mehrere Zuhörer über ein bei leiseren Stellen deutlich hörbares Rattern und Rauschen: eine Art Beatmungsapparat einer älteren Dame. Nach kurzer Diskussion mit dem Personal wurde die Dame in der Pause aus dem Saal geführt. Ich war froh über die Ruhe, aber war das in Ordnung?« Ilse F., Dresden

Ihre Frage dreht sich um Inklusion, im Grunde die Fortsetzung der Integration. Während bei der Integration der Betroffene in ein bestehendes System eingefügt wird – oder hart ausgedrückt: sich dem System anpassen – soll, geht es bei der Inklusion darum, das System so zu verändern, verbessern, dass es für alle in ihrer Unterschiedlichkeit möglichst gleichermaßen geeignet ist.

Meistgelesen diese Woche:

Demnach wäre es, da das Problem häufiger vorkommt, Aufgabe der Gesellschaft, Konzertsäle so zu bauen, dass sie auch Plätze für Besucher vorhalten, die auf geräuschvolle Hilfsmittel angewiesen sind. Mit zwei Schwierigkeiten: Zum einen entstehen dadurch spezielle, getrennte Bereiche für diese Menschen, sie werden also nur teilweise inkludiert und umgekehrt sogar baulich abgesondert. Zum anderen sind Umbauten meist teuer und brauchen Zeit. Es müssen daher, wo das nicht möglich ist, andere Lösungen gefunden werden. Das geschieht tatsächlich, wie ich auf Nachfrage bei verschiedenen Konzertsälen erfahren habe, auch laufend von Fall zu Fall: etwa durch Ausweichen in Regieräume oder ins Foyer, an einen akustisch etwas abgeschirmten Rand oder durch Akzeptieren der Geräusche.

Das sind alles keine Ideallösungen, die es vielleicht nie geben wird. Aber Inklusion bedeutet in diesem Falle auch, den Anspruch der Besucher mit Beeinträchtigung, das Konzert besuchen zu können, zunächst überhaupt anzuerkennen. Dazu muss man ihn aber nicht allein herausstellen, über den Anspruch aller Besucher auf akustisch möglichst unbeeinträchtigten Konzertgenuss. Vielmehr stehen die Ansprüche aller Konzertbesucher, gleich ob beeinträchtigt oder nicht, grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander. Dann jeweils eine praktikable Lösung zu suchen, ist nicht nur der Weg zur Inklusion, sondern das gemeinsame Suchen unter Anerkennung und Abwägung aller beteiligter Interessen ist selbst schon Inklusion.

Literatur:

Heiner Bielefeldt, Inklusion als Menschenrechtsprinzip: Perspektiven der UN-Menschenrechtskonvention, in: Vera Moser, Detlef Horster (Hrsg.), Ethik der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung. Eine Grundlegung, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2012, S. 149-166

Clemens Dannenbeck, Carmen Dorrance, Inklusion als Perspektive (sozial)pädagogischen Handelns - eine Kritik der Entpolitisierung des Inklusionsgedankens, Zeitschrift für Inklusion, Ausgabe 02/2009
Online abrufbar hier

Andreas Hinz, Inklusion - mehr als nur ein neues Wort?! Lernende Schule, Heft 23, 2003
Online abrufbar hier (Dort S. 15 - 18)

Clemens Dannenbeck (unter Mitarbeit von Pia Arend, Bernadette Felder und Marion Fuhrmann), Theater mit dem Museum - Inklusion und kulturelle Teilhabe. Zeitschrift für Inklusion, [S.l.], jan. 2012. ISSN 1862-5088.
Online abrufbar hier

Illustration: Serge Bloch