Die Gewissensfrage

Eine Radfahrerin stirbt, weil sie einem auf dem Radstreifen parkenden Lieferwagen ausweicht und von einem Auto erfasst wird. Ist ein Anrainer mitschuldig, der das Falschparken schon länger bemerkte und nichts unternahm?

»Bei uns in der Stadt gibt es eine Straße mit viel Verkehr und einem Radstreifen am Fahrbahnrand. In dieser Straße befindet sich auch ein Pizza-Bringdienst, dessen Fahrer oft unerlaubterweise auf dem Radstreifen parken. Ich habe mehrmals überlegt, ob ich nicht einfach mal in den Laden gehe und die Angestellten darauf anspreche und sie bitte, dies nicht zu tun. Leider habe ich das nie getan. Jetzt kam eine Radfahrerin ums Leben, weil sie einem auf dem Radstreifen parkenden Auto des Lieferdienstes auswich und von einem Auto erfasst wurde. Bin ich mitschuldig an ihrem Tod?« Hans W.

Ihre Sorge ist nachvollziehbar, ja auf den ersten Blick sogar einleuchtend. Sie haben eine Gefahr gesehen, und nachdem etwas passiert ist, kann man feststellen, es wäre vielleicht besser gewesen, Sie hätten etwas gesagt. Dennoch gelange ich aus zwei Gründen zu der Meinung, dass Sie keine Mitschuld trifft.

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Zum einen würde eine echte Mitschuld voraussetzen, dass Sie für die Situation in irgendeiner Weise mitverantwortlich sind. Das sind Sie als reiner Passant nicht, zumindest nicht solange nur eine abstrakte Gefahr vorliegt. Ansonsten müssten Sie auch etwas gegen jede unübersichtliche Kreuzung oder sonstige gefährliche Situation unternehmen. Vor allem aber müsste es eine realistische Chance geben, dass Ihre Intervention etwas verändert hätte, und davon kann man kaum ausgehen. Es scheint eher abwegig, dass die Angestellten geantwortet hätten: »Vielen Dank für den Hinweis. Nun, weil Sie das gesagt haben, werden wir in Zukunft nicht mehr so parken, sondern die Pizza immer bis zum nächsten legalen Parkplatz tragen.«

Man erkennt dabei zugleich, wer sich alles an Ihrer Stelle Gedanken machen sollte. In erster Linie der Fahrer des parkenden Autos. Man muss es klar sagen: Jeder, der, und sei es auch nur kurz, auf einem Radweg stehen bleibt und die Radfahrer damit zum Ausweichen auf die Straße zwingt, muss damit rechnen, dass etwas passiert, bis hin zum Tod eines Menschen. Das Gleiche gilt für denjenigen, der einen Pizza-Dienst ohne ausreichende Haltemöglichkeiten für die Fahrzeuge betreibt, die Behörde, die diese Nutzung genehmigt oder nicht untersagt hat, und jede Verkehrspolizeistreife, die seit der Eröffnung des Geschäfts an den parkenden Pizza-Autos vorbeigefahren ist, ohne etwas zu unternehmen. Sie alle hatten Verantwortung und die Möglichkeit, das zu unterbinden. Im Gegensatz zu Ihnen.

Literatur:

Einen interessanten Beitrag zur Problematik, wann man etwas gegen Missstände unternehmen darf/soll/muss lieferte 2004 der Film Muxmäuschenstill, in dem der Protagonist Herr Mux versucht, jegliches Fehlverhalten, zunächst in seiner Umgebung, später auch deutschlandweit durch Selbstjustiz zu unterbinden und daran zugrunde geht.

Muxmäuschenstill von Marcus Mittermeier, Buch & Darsteller: Jan Henrik Stahlberg, Deutschland 2004  

Ein sogenanntes Filmheft zu Muxmäuschenstill von Thomas Winkler ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen und online abrufbar

Lesenswert in diesem Zusammenhang und allgemein zu den Unterschieden zwischen Tun und Unterlassen und deren Auswirkungen und die Verantwortung ist:

Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, Reclam Verlag Stuttgart 1995:  Nachdem das Buch lange Zeit vergriffen und auch antiquarisch nur schwer erhältlich war, erscheint glücklicherweise gerade eine 2. durchgesehene Neuauflage im Alibri Verlag, Aschaffenburg. Interessant ist dort insbesondere auch das Kapitel 6 „Verborgene Parameter“? mit einer Tabelle, die verschiedene Merkmale von Handeln und Unterlassen gegenüber stellt (in der Reclam-Ausgabe auf S. 131)  

Zum Thema Verantwortung: 

Otfried Höffe, Verantwortung, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, Verlag C.H. Beck, München, mittlerweile in der 7. Auflage 2008  

H. Lenk / M. Maring, Verantwortung, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 11, Schwabe Verlag Basel, 2001, Spalte 566-575.  

Micha H. Werner, Verantwortung, in: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal, Micha H. Werner, Handbuch Ethik, Verlag Metzler, Stuttgart 2002, S. 521-527  

Kurt Bayertz (Hrsg.), Verantwortung: Prinzip oder Problem, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995

Illustration: Serge Bloch