Sch(w)einmoral

Darf ich als Vegetarier das Fleischgericht meines Partners aufessen, wenn ich nicht möchte, dass Lebensmittel weggeworfen werden? Die Gewissensfrage.


»Wegen ökologischer und ethischer Aspekte esse ich kein Fleisch. Wohl aber mein Partner. Als ihm im Urlaub eine Portion Schinken zu viel war und er die Hälfte zurückgehen lassen wollte, habe ich den Rest gegessen, weil ich die Vernichtung von Lebensmitteln schlimmer fand als einen Bruch meiner moralischen Überzeugungen. Was wiegt aus Ihrer Sicht schwerer?« Antje K., Karlsruhe

Entscheidend ist, warum genau Sie normalerweise kein Fleisch essen. Es könnte sein, dass Sie keine Tiere essen wollen, weil Sie das Töten von Tieren grundsätzlich für falsch und deshalb verboten halten. Sich nach einem derartigen, selbst gegebenen Gesetz zu richten, entspräche einer Ethik, die sich an Pflichten orientiert, wie sie in erster Linie Immanuel Kant vertreten hat. Wenn das Ihre Überzeugung ist, sollten Sie auch kein übriggebliebenes Fleisch essen. Denn auch dieses Fleisch wurde durch Tötung eines Tieres gewonnen, und daran teilzuhaben, widerspricht Ihrer Überzeugung. Anders ist es, wenn Sie das Essen von Fleisch ablehnen, weil Sie durch Ihr Verhalten nicht zu mehr Leid auf der Welt – einschließlich dem der Tiere – beitragen wollen, es Ihnen also weniger auf die Grundsätze, sondern auf die Konsequenzen Ihrer Handlungen ankommt. Die dem zugrundeliegende Ethik nennt man deshalb auch konsequentialistisch, ihr Hauptvertreter ist die Nützlichkeitsethik, der Utilitarismus. In diesem Fall können Sie den Schinken essen, weil Ihr Tun – wenn man auf diese eine Mahlzeit abstellt – keine negativen Konsequenzen hat, im Gegenteil eher positive: Das Fleisch des Tieres landet nicht auf dem Müll.

Die dritte Möglichkeit wäre, dass Sie Ihre Ablehnung des Fleischkonsums als eine Haltung leben, die Sie als die richtige, in den Worten der Tugendethik: tugendhafte ansehen und deshalb zu einem Teil Ihrer Persönlichkeit gemacht haben. Fleisch zu essen verstieße gegen diese tugendhafte Haltung und würde Sie in Ihrer Integrität beschädigen. Zwar spielt die Frage der Integrität in den beiden anderen Fällen auch eine Rolle, hier ist sie jedoch wesentlich zentraler.

Meistgelesen diese Woche:

Alle drei Beweggründe sind gleichermaßen achtenswert. Die Frage, was schwerer wiegt, können Sie deshalb nur selbst beantworten.


Literatur

Zur Integrität:

Arnd Pollmann, Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie, transcript Verlag, Bielefeld 2005

Bernard Williams, Kritik des Utilitarismus, Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1979

Bernard Williams, Utilitarismus und moralische Selbstgefälligkeit, in: Bernard Williams, Moralischer Zufall. Philosophische Aufsätze 1973–1980, Hain Verlag, Königstein 1984, S. 50–64

Einen guten Überblick zu den angesprochenen moralphilosophischen Hauptströmungen gibt:

Herlinde Pauer Studer, Einführung in die Ethik, facultas WUV/UTB, Wien 2. Auflage 2010

Daneben kann hier auf alle Einführungen und Übersichten über die Ethik verwiesen werden. Sowie auf das Kapitel: Von Pflichten, Nutzen, Tugenden und Nichtwissen. Über ethische Theorien, in: Rainer Erlinger, Moral. Wie man richtig gut lebt, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2011 (Taschebuch 2012) S. 74–96

Speziell zur Tugendethik, die wegen der Haltung und der möglichen Beschädigung der Integrität hier besonders interessiert:

Aristoteles, Nikomachische Ethik, insbesondere II. Buch
Gute Übersetzungen gibt es von Olof Gigon bei dtv, München 1991 und Ursula Wolf im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg 2006

Das Kapitel „Tugendethik“ in der auch sonst empfehlenswerten Einführung in die Ethik von Herlinde Pauer Studer, facultas WUV/UTB, Wien 2. Auflage 2010

Eine Sammlung von modernen Texten zu diesem Thema: Tugendethik, herausgegeben von Klaus Peter Rippe und Peter Schaber, Reclam Verlag, Stuttgart 1998

Das Kapitel „Tugendethik und moralische Motivation“ einschließlich einer Einleitung in Texte zur Ethik, herausgegeben von Detlef Horster, Reclam Verlag, Stuttgart 2012

Lesenswert aus literarischer Sicht ist der mit dem Man Booker International Prize 2016 ausgezeichnete Roman „Die Vegetarierin“ der koreanischen Autorin Han Kang, auf deutsch erschienen im Aufbau Verlag Berlin 2016, in dem der Verzicht auf Fleisch aber eher als Allegorie behandelt wird.

Illustration: Serge Bloch