Das Problem: Die Obdachlosenrate steigt seit knapp zehn Jahren stetig. Fast eine halbe Million Menschen haben in Deutschland keine feste Bleibe, darunter 52.000 Obdachlose.
Die Lösung? Gebt den Obdachlosen ein Dach über dem Kopf!
Wie funktioniert es? Mit dem Housing First Prinzip haben Städte wie Salt Lake City die Obdachlosigkeit um 78 Prozent reduziert.
In Düsseldorf kennt den Mann fast jeder: Michael Hermann, 50, genannt »Hörmän«, sticht mit seinem roten Vollbart und seinem verschmitzten Lächeln aus der Masse, wenn er die Obdachlosenzeitung FiftyFifty verkauft. Aber Düsseldorfs prominentester Obdachloser ist selbst keiner mehr: FiftyFifty beschaffte ihm nach mehr als 20 Jahren auf der Straße eine Wohnung – und zwar mit Hilfe einer glamourösen Blondine auf einem Schwarz-Weiß-Foto von Peter Lindbergh, einem Gemälde von Gerhard Richter und einigen anderen internationalen Kunstgrößen. Das Prinzip? Housing First. Erst eine Wohnung, dann sehen wir weiter.
Auf 28 frisch renovierten Quadratmetern in Düsseldorf-Hassels hat sich Hörmän nun gemütlich mit Schrankwand und Sofa eingerichtet. Alles ist blitzsauber. Seine Heroinsucht gehört ebenso der Vergangenheit an wie der Griff zur Flasche. Starfotograf Peter Lindbergh schenkte der privaten Obdachlosenhilfe FiftyFifty 14 Bilder, die für 4200 Euro pro Bild versteigert wurden. Davon (und dank einiger Spenden) bekam Hörmän eine Eigentumswohnung für 64.700 Euro.
Das Konzept Housing First kommt aus Amerika, hilft am meisten den Langzeitobdachlosen und ist in Deutschland noch wenig bekannt. Das Prinzip ist einfach: Statt den Menschen auf der Straße mit medizinischer Versorgung und psychologischer Betreuung notdürftig auf Platte zu helfen, bekommen die Wohnungslosen zuerst eine Wohnung, ohne sie an Bedingungen zu knüpfen. Eine richtige Wohnung mit eigenem Schlüssel. Keine Notunterkunft, keine Stockbetten, keine Angst mehr, dass ihnen in Gemeinschaftsunterkünften ihr Hab und Gut geklaut wird. Auf dieser stabilen Basis werden dann die anderen Probleme wie Schulden, Sucht oder Arbeitslosigkeit angegangen, nicht umgekehrt.
»Von dem Geld für zwei Jahre betreutes Wohnen kann man auch gleich eine Wohnung kaufen«, rechnet Oliver Ongaro vor, der seit 15 Jahren für FiftyFifty Wohnungslose betreut. Aber in Deutschland gilt eher das Stufenprinzip: An eine Wohnung werden Bedingungen geknüpft, zum Beispiel Abstinenz. Hörman hat fünf Mal betreutes Wohnen mitgemacht, immer begrenzt auf 18 bis 24 Monate. »Am Schluss steigt dann der Stress auf allen Seiten, weil klar ist: in drei Monaten muss er raus und es gibt keine Anschlusswohnung«, weiß Ongaro. »Das war bei Hörmän ganz gravierend. Oft kommt dann der Rückfall in die Sucht, das ist massiv gesundheitsgefährdend.« Im Stufensystem fängt der Wohnungslose dann wieder von vorne an, auf der Straße. Sozialforscher nennen das den »Drehtür-Effekt«.
Ongaro schwärmt von seinen Schützlingen. Bei Hörmän passte die Schrankwand, die er unbedingt wollte, nicht in den Aufzug. »Das war toll zu sehen, dass er da nicht aufgegeben hat«, sagt Ongaro. »Es ist ihm unheimlich wichtig, die Wohnung hübsch einzurichten, auch sein eigenes Aussehen hat sich verändert. Es geht um die Selbstwertschätzung – und das bei einem Mann, der zuvor 20 Jahre lang versucht hat, seinen Körper zu zerstören.« Die Erfolgsquote bei FiftyFifty in inzwischen 43 Wohnungen: 100 Prozent. Alle sind noch in ihrer Wohnung (bis auf eine Familie, die aus familiären Gründen wegzog).
Dass Housing First funktioniert, haben Dutzende von Städten beweisen: Amerikanische Städte wie Salt Lake City haben damit die Obdachlosigkeit um 78 Prozent reduziert; ganz Finnland, Dänemark und viele Städte in Holland und Österreich haben sich dem Housing First Prinzip verschrieben; in Kanada wurde die Wirksamkeit mit gut 1000 Wohnungslosen nachgewiesen, und Volker Busch-Geertsema von der Gesellschaft für Innovative Sozialforschung und Sozialplanung in Bremen hat den Erfolg in vier europäischen Städten beobachtet: Amsterdam, Lissabon, Kopenhagen und Glasgow. »80 bis 90 Prozent der Langzeit-Obdachlosen sind auch nach zwei bis fünf Jahren in ihren Wohnungen geblieben, die soziale Integration funktioniert«, fasst Busch-Geertsema zusammen. Er definiert Housing First als »das Gegenteil von Trockenschwimmen. So wie man Schwimmen am besten im Wasser lernt und Fahrrad fahren mit einem Fahrrad, genauso lernt man Wohnen am besten in einer Wohnung und nicht in einer Einrichtung.« Housing First heisse ja nicht Housing Only, meint Busch-Geertsema mit seinen 25 Jahren Berufserfahrung. »Es geht nicht darum, den Leuten einfach einen Schlüssel für die Wohnung zu geben und zu sagen, nun komm mal zurecht. Es wird weitere Hilfe angeboten, auch nachdrücklich, das ist aber keine Verpflichtung, um die Wohnung zu behalten. Die Wohnung ist eine Ausgangsbasis, ein anderes Leben zu führen, und damit Wohnungslosigkeit zu beenden anstatt sie weiter zu verwalten.« Busch-Geertsema hält das für »eine wesentlich humanere und bessere Methode, ein großer Gewinn.«
Am besten funktioniert es, wenn die Wohnungen dezentral verteilt sind oder kleinere Häuser mit einem knappen Dutzend Wohnungen gekauft werden, wie es FiftyFifty macht, da wissen die Nachbarn oft gar nicht, dass sie neben ehemals Wohnungslosen wohnen. Gigantische Obdachlosensiedlungen mit 100 oder mehr ehemals Wohnungslosen stigmatisieren und verwandeln sich schnell in Chaos.
Warum also Housing First nicht in Deutschland? Fast eine halbe Million Menschen haben in Deutschland keine feste Bleibe, darunter 52.000 Obdachlose, die auf der Straße leben. Es gibt erste Ansätze: Die Hamburger Organisation Careleaver betreibt Housing First mit EU-geförderter Betreuung vor allem bei Jugendlichen; Berlin hat vor einigen Jahren ein »geschütztes Marktsegement« eingeführt, in dem bis zu 2000 Wohnungen pro Jahr an ehemals Wohnungslose vermittelt werden sollen; Bremen schreibt beim Verkauf städtischer Grundstücke einen Anteil an Sozialwohnungen von 25 Prozent vor; ein halbes Dutzend soziale Wohnraumagenturen kümmern sich um die Vermittlung von sozialem Wohnraum. »Die Versuche kann man aber an zwei Händen abzählen«, sagt Busch-Geertsema, »und selbst da gibt es immer noch Hürden.«
Er sieht zwei Gründe, warum das Thema hier erst am Anfang steht. Erstens »die Mentalität. Es gibt hier immer noch das Denken, man müsse den Wohnungslosen erst ›wohnfähig‹ machen. Die Idee, die Leute vorbehaltlos anzunehmen und ihnen erst einmal Wohnraum zu gewähren, ist in der Praxis noch nicht angekommen.« Selbst wenn Wohnraum da ist, »gibt es ein Zugangsproblem. Sie scheitern an der Schufa-Anfrage oder an den Ängsten der Vermieter vor Messie-Mietern. Gerade der Personenkreis, bei dem Housing First am dringendsten gebraucht wird, ist da chancenlos.« In seiner Erfahrung sind es nur etwa 15 Prozent, die wirklich nicht alleine leben können. »Die Prioritäten müssen also verschoben werden. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel.«
Und dann natürlich, zweitens, wo kommen die Wohnungen her, gerade in überteuerten Märkten wie Berlin, München oder Düsseldorf? Da kommt Busch-Geertsema richtig in Fahrt, hier hat er sich aus seinen Besuchen in Nachbarländern eine ganze Liste an Möglichkeiten abgeschaut. »Der Neubau ist wichtig, da kann man wie Bremen aushandeln, dass künftig 20 Prozent der neu geschaffenen Sozialwohnungen für Wohnungslose zur Verfügung gestellt werden, aber der Hauptteil der Musik spielt im Bestand. Sie können privaten Eigentümern helfen, indem sie zusagen, die Miete zu garantieren und alle Risiken abnehmen, und mehr soziale Wohnungsagenturen schaffen, in Belgien gibt's die in jeder Kleinstadt.« Wien hat inzwischen einen Anteil von über 40 Prozent Sozialwohnungen bei den Neubauten, in Deutschland sind es in den Großstädten oft weniger als fünf Prozent. »Das hören die Bauträger nicht gerne, aber es ist machbar.« Oder, wie es der inzwischen verstorbene Künstler und FiftyFifty-Unterstützer Jörg Immendorff formulierte: »Da ist knallhart der Staat gefragt.«
Auch kirchliche Immobilien sollten genutzt werden, meint Busch-Geertsema und erzählt von einer Kirche in Münster, die zu Wohnraum umgebaut wurde, und von den vielen Menschen, die ihr Kapital in ethische Anlagen investieren möchten. »Es gibt einzelne Ansätze hier und da, aber nicht als Programm, jetzt mal richtig flächendeckend anzupacken.« Dabei ist Housing First nicht teurer als das jetzige Stufensystem. Und bei dem jetzigen System, sagt Busch-Geertsema, gebe es eine ganze Gruppe von Menschen, die nicht versorgt wird. »Ich sehe mit Sorgen, dass es eher in die andere Richtung geht – mehr kurzfristige Einrichtungen, mehr betreutes Wohnen, mehr begrenzte Projekte, das finde ich eine Fehlentwicklung.« Und natürlich, sagt er, sei es ganz wichtig, Geringverdienern dabei zu helfen, nicht in die Wohnungslosigkeit abzurutschen. »Das ist wesentlich einfacher, als sie aus der Wohnungslosigkeit zu holen.«
Von den jüngsten Hochrechnungen, wonach Deutschland bald über eine Million Obdachlose haben wird, hält Busch-Geertsema wenig. Genau kennt die Zahlen keiner, weil sie nicht erfasst werden, aber Busch-Geertsema hält die Sache »für ein lösbares Problem, viel mehr als in USA oder Kanada, wo über die Beendigung von Wohnungslosigkeit viel mehr gesprochen wird. Deutschland wäre in einer sehr guten Position, das Problem weitgehend zu reduzieren. Sie werden immer Wohnunglose haben, nach einem Brand oder Neuzuzug, aber die Langzeitwohungslosen, das ist keine so große Menge von Menschen, dass man das nicht schaffen kann.« In der Debatte um riesige Zahlen gehe das oft verloren. »Wenn man sich konzentriert auf die Menschen, die die größten Schwierigkeiten haben, dann ist das wirklich ein lösbares Problem.«
FiftyFifty hat freilich besonders kreative Wege gefunden, ihre Wohnprojekte zu finanzieren. International renommierte Künstler mit Düsseldorf-Bezug wie Peter Lindbergh, Jörg Immendorf, Thomas Ruff, Imi Knoebel, Wim Wenders, Andreas Gursky und Katharina Sieverding haben Kunstwerke gespendet, die FiftyFifty in ihrer Benefiz-Galerie versteigert.
Gerhard Richter, einer der renommiertesten und teuersten zeitgenössischen Künstler, hat FiftyFifty eine Reihe von Editionen geschenkt. Mit dem Erlös will FiftyFifty eine Million Euro erzielen und davon gemeinsam mit dem Paritätischen NRW einen Housing First Fonds aufbauen, durch den andere Träger in die Lage versetzt werden sollen, ebenfalls Housing First anzubieten. Bei maximal 100 Wohnungen soll aber Schluss sein. »FiftyFifty kann kein Lückenbüßer für eine verfehlte Politik sein«, sagt der FiftyFifty-Chefredakteur Herbert Ostendorf. »Wir wollen kein Wohnunternehmen werden«. Aber sie versuchen, die Landesverbände und andere Träger von dem Konzept zu überzeugen, mit Vorzeigebeispielen wie Hörmän oder Veronika.
Ihre Drogensucht brachte die 44jährige FiftyFifty-Verkäuferin Veronika regelmäßig ins Gefängnis. Dort begann sie mit Lauftraining, drei Monate nach ihrer Entlassung lief sie ihren ersten Marathon. Aber zwischendurch: immer wieder Rückfälle. Seit eineinhalb Jahren lebt sie nun in einer FiftyFifty-Wohnung, da hängen inzwischen zehn Marathon-Medaillen. Bestzeit: vier Stunden und sechs Minuten. »Es lohnt sich, immer wieder aufzustehen«, sagt Veronika, »und das nicht nur zum Laufen, sondern in allen anderen Bereichen des Lebens.«
An dieser Stelle vielen Dank an die Leser Eva-Maria Offermann und Paul Zink Yi, die das Thema Obdachlosigkeit vorgeschlagen haben.
Foto: Katharina Mayer