Das Problem: Seit Beginn der Pandemie melden Hotlines für Gewaltopfer in vielen Ländern steigende Zahlen.
Die Lösung: Eine polnische Schülerin hat einen vermeintlich unauffälligen Kosmetika-Shop gegründet, an den sich Hilfesuchende unter einem Vorwand wenden können.
Als die 17-jährige polnische Schülerin Krystyna Paszko zu Beginn der Pandemie erfuhr, dass die Fälle von häuslicher Gewalt im Lockdown alarmierend stiegen, recherchierte sie, wie sie helfen könne. Ihr gefiel unter anderem eine praktische Idee aus Frankreich, wo Gewaltopfer in der Apotheke nach einer speziellen Maske fragen können – ein unauffälliges Codewort dafür, dass sie Hilfe brauchen. Nach dem gleichen Prinzip baute sie im April 2020 einen Fake-Online-Shop für Kosmetika auf, unter dem scheinbar harmlosen Namen Kamille und Stiefmütterchen (Rumianki I bratki). Unter dem Vorwand, nach Gesichtscreme zu suchen, können Gewaltopfer dort auf ihre Situation aufmerksam machen. Denn statt einer Kosmetikerin oder Verkäuferin meldet sich am anderen Ende eine Juristin oder Psychologin, die in Zusammenarbeit mit dem gemeinnützigen »Women’s Rights Center« in Warschau Hilfe anbieten. Die Europäische Union hat die Initiative gerade mit dem EU-Preis für zivile Solidarität und 10.000 Euro ausgezeichnet. Die Jurastudentin Hanna Kobus, 21, ist seit Beginn als Freiwillige bei dem Projekt dabei und erklärt im Interview, wie die Idee im Alltag umgesetzt wird und warum der Bedarf nach dieser Art von Unterstützung leider sehr hoch ist.
SZ-Magazin: Wie funktioniert die Webseite genau?
Hanna Kobus: Auf unserer Seite bieten wir Fake-Cremes und -Natur-Kosmetika an; wir schalten auch Werbung dafür. Frauen können uns per SMS, E-Mail, Facebook Messenger oder telefonisch kontaktieren.
Wie läuft so ein Kontakt ab?
Es gibt zwei Varianten. Manche Frauen sagen direkt, dass sie Hilfe brauchen. Andere fragen nach Cremes, da müssen wir dann vorsichtig nachfragen. Eine Frau sagte zum Beispiel, sie habe Probleme mit ihrer polnischen Gesichtscreme, denn da sei Alkohol drin und verursache Entzündungen. Da weiß ich also, aha, diese Frau hat einen gewalttätigen Alkoholiker im Haus und kann nicht offen sprechen. Andere fragen nach Make-up, mit dem sie blaue Flecken abdecken können. Wenn eine Frau eine »Bestellung« aufgibt und ihre Adresse mitteilt, ist es für uns das Signal, die Polizei zu rufen.
Was ist der Vorteil, wenn sich diese Frauen an Kamille und Stiefmütterchen wenden statt direkt an die Polizei oder eine Hotline?
Unsere Seite ist vor allem hilfreich für Opfer, die mit ihrem Misshandler zuhause sind. Die meisten können nicht einfach telefonieren, eine SMS oder Mail zu schreiben ist unauffälliger. Wenn der Misshandler den Browser-Verlauf kontrolliert, sieht er nur, dass die Frau nach Cremes gesucht hat. Wir sprechen mit den Frauen ab, wie wir ihnen am besten helfen können. Viele brauchen psychologische Unterstützung oder die Vermittlung einer geschulten Therapeutin, aber wir haben auch schon Frauen konkret aus Gewaltsituationen geholt. Das Problem ist auch: Wenn sie direkt die Polizei rufen, passiert oft nichts. Erst letztens wieder bat ein Mädchen, das in der Familie geschlagen wurde, ihren Freund, die Polizei zu rufen. Das tat er auch, die Polizei sagte natürlich, sie würde nachschauen, tauchte aber nie auf. Das passiert häufiger, als man denkt, weil viele Polizisten in Polen häusliche Gewalt immer noch als Familienangelegenheit abtun. Da haben wir als gemeinnützige Organisation die Möglichkeit, Druck auszuüben und sicherzustellen, dass die Polizei dem auch nachgeht.
»Es ist kein Zufall, dass wir in Polen gegründet wurden, denn wir haben hier ein kulturelles Verständnis, das Gewalt gegen Frauen verharmlost«
Wie vielen Frauen haben Sie seit April 2020 mit dem Kosmetik-Shop geholfen?
Fast 500 Frauen. Etwa 20 davon haben wir aus der Situation geholt und in sichere Frauenhäuser gebracht.
Wie stellen Sie sicher, dass die Frauen wissen, dass Sie keine Cremes, sondern Hilfe anbieten?
Wir müssen die Balance finden zwischen unserem Anliegen, dass uns alle kennen, die uns brauchen, aber keiner der Täter. Hin und wieder rufen tatsächlich Frauen an, die nur eine Creme wollen, aber direkt nach Beginn des Lockdowns hatten wir sofort enorm viele Anfragen von Gewaltopfern, von denen wir manche heute immer noch betreuen. Es verbreitet sich durch Hörensagen, Freundinnen, über Facebook und Frauen-Webseiten.
Wenden sich nur Frauen an Sie?
Vor allem Frauen, aber auch einige Männer, mehrere Transgender und einige Kinder. Die meisten Hilfesuchenden sind jung, um oder unter 20, für die ist es einfacher, sich über soziale Medien an uns zu wenden. Wir sind auch ein sehr junges Team. Unsere Webseiten-Designerin zum Beispiel ist noch jünger als die Gründerin.
Warum haben Sie von Anfang an mitgemacht?
Ich bin Jurastudentin im zweiten Semester und wollte etwas machen, mit dem ich Frauen helfen und auch mein Wissen praktisch einsetzen kann. Die Juristinnen unter uns wurden psychologisch geschult, damit wir passend reagieren können, und die Psychologinnen erhielten ein juristisches Training, damit jede von uns in beiden Bereichen die richtigen Infos geben kann. Für die tiefergehende Betreuung haben wir uns mit dem gemeinnützigen »Women’s Rights Center« in Warschau zusammengeschlossen, das dann ausgebildete Juristinnen und Psychologinnen vermittelt. Über das Center kam auch ich dazu, die sprachen mich an, ob ich hier mitmachen will. Das Projekt wuchs sehr organisch.
Gibt es Anfragen aus anderen Ländern?
Ja, wir haben Kontakt zu Frauen aus Großbritannien, Australien, und weiteren Ländern, die die Idee kopieren wollen. Es sollte in jedem Land so eine Möglichkeit geben.
Die nationalkonservative Regierung in Polen machte letztes Jahr Schlagzeilen, weil sie sich aus der sogenannten Istanbul-Konvention zurückziehen wollte, dem internationalen Abkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Wie ist die Situation in Polen heute?
Es ist kein Zufall, dass wir in Polen gegründet wurden, denn wir haben hier ein kulturelles Verständnis, das Gewalt gegen Frauen verharmlost. Ein oft gehörter Spruch lautet: »Wenn du deine Frau nicht schlägst, wird sie krank.« Wir bekommen wenig Unterstützung von der Regierung. Zum Beispiel sagte unser Bildungsminister, dass Frauen zum Kindergebären da sind, und er sprach sich für körperliche Züchtigung von Kindern aus. 90.000 Frauen wenden sich hier jedes Jahr an die Behörden, um die sogenannte blaue Karte zu beantragen, mit der sie speziellen Opferschutz genießen, aber die Dunkelziffer ist viel höher, und seit der Pandemie sind auch die offiziellen Antragszahlen auf über 100.000 gestiegen. Wie viele Frauen sind da draußen, die sich nicht trauen, um Hilfe zu bitten? So etwas wie diese Webseite wird dringend benötigt.