So kann man sexualisierter Gewalt vorbeugen

Wie lässt sich bevorstehender Missbrauch erkennen und verhindern? Ein Präventionsprogramm aus den USA hat dort, wo es eingesetzt wurde, die Anzahl der Vorfälle halbiert.

Statt vom Missbrauch zu erzählen und die Täter beim Namen zu nennen, ziehen sich viele Opfer zurück und schweigen. Spezielle Trainingsprogramme stärken die Opfer und schulen den Blick für mögliche Anzeichen, dass Missbrauch bevorsteht.

Foto: dpa

Das Problem: Jedes dritte Mädchen unter 16 Jahren hat schon einmal sexualisierte Gewalt erfahren.
Die Lösung: Präventionsprogramme wie Flip the Script halbieren die sexualisierte Gewalt an Schulen und Unis.

Vier Jungs packten sie und schleppten sie in den Keller der Schule. »Sie hielten meine Hände umklammert und haben mich begrapscht.« Am ganzen Körper. Es ist Jahre, sogar Jahrzehnte her, aber Sandra Scheeres, 48, erinnert sich ganz genau an diesen Morgen in ihrer Düsseldorfer Schule. »Das habe ich immer noch in meinem Kopf.« Damals war sie eine Achtklässlerin, heute ist sie Bildungssenatorin in Berlin, und dass sie so offen über den Übergriff spricht, hat einen Grund: Sie weiß nur zu gut aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, Kinder schon im Schulalter vor sexualisierter Gewalt zu schützen.

Die Vergewaltigung eines zehnjährigen Berliner Grundschülers durch Klassenkameraden auf einer Klassenfahrt in der Uckermark ließ viele Experten nach mehr Prävention rufen. Jedes dritte Mädchen und jeder vierte Junge unter 16 Jahren hat laut der hessischen SPEAK-Studie schon einmal sexualisierte Gewalt erfahren – zum Beispiel gegen den Willen angegrapscht, geküsst oder intim berührt zu werden. Das Deutsche Jugendinstitut befragte Tausende von Neuntklässlern und bekam ähnlich schockierende Antworten: 60 Prozent sind in irgendeiner Form betroffen, wenn man auch sexualisierte WhatsApp-Nachrichten, ungefragt gezeigte Pornos und ähnliche Vorfälle mit einbezieht. Bei diesen Zahlen ist es doch erstaunlich festzustellen: An kaum einer Schule werden Lehrer darin ausgebildet, sexualisierte Gewalt zu verhindern oder überhaupt die ersten Warnsignale bei ihren Schülern zu erkennen und anzusprechen. Das ist nicht Teil ihrer pädagogischen Ausbildung – aber wo, wenn nicht an Schulen und Universitäten, sollten Pädagogen lernen, darauf zu achten?

Meistgelesen diese Woche:

Wie bei Sandra Scheeres sind es häufiger Gleichaltrige als Erwachsene, die übergriffig werden. Scheeres hatte damals das Glück, dass ein Lehrer nachfragte und nicht lockerließ, bis sie ihm erzählte, was passiert war. Nun will sie Schulen zu einem sicheren Ort machen und Lehrer dazu ermutigen, sich mit diesem komplexen Thema auseinanderzusetzen. An den Berliner Schulen hat sie Informationspakete verteilen lassen. Schüler sollen wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie Hilfe brauchen, und Lehrer sollen Probleme frühzeitig erkennen. Das kann, wie bei Sandra Scheeres, einen großen Unterschied machen. Sie sagt: »Ich habe Glück gehabt.« Ihre Aktion ist Teil der bundesweiten Initiative »Schule gegen sexuelle Gewalt«, die eigentlich schon im September 2016 gestartet wurde, aber bisher nur mühsam in die Gänge kommt.

In meiner Gymnasialzeit wurden zwei meiner Schulfreundinnen vergewaltigt, mit 14 und 15 Jahren. Keine hat es angezeigt.

Dabei schauen die deutschen Pädagogen in die USA, wo es an manchen Schulen und Unis seit mehr als 20 Jahren Präventionsmaßnahmen gibt. Werden die gut umgesetzt, das zeigen Langzeitstudien, gehen die Vorfälle um 60 Prozent zurück. In Deutschland dagegen werden jedes Jahr etwa 12000 sexuelle Missbrauchsfälle gemeldet, und die Zahlen bleiben in etwa immer gleich. Dabei bahnt sich die Gewalt oft langsam an. Opfer werden über Wochen oder Monate »gegroomt«, also gefügig gemacht, und ein frühzeitiges Eingreifen – oder auch allgemein die Art und Weise, wie über Sexualität und Geschlechterrollen gesprochen wird – hat nachweislich einen großen Einfluss, wie weit Übergriffe gehen, selbst wenn sie oft nicht auf dem Schulhof, sondern außerhalb passieren.

In meiner Gymnasialzeit wurden zwei meiner Schulfreundinnen vergewaltigt, mit 14 und 15 Jahren. Keine hat es angezeigt. Beide gaben sich selbst eine Mitschuld. (»Ich bin ja zu ihm ins Auto gestiegen.«) Von einer weiteren Mitschülerin nehme ich im Rückblick stark an, dass sie von ihrem Vater missbraucht wurde. Wir haben das als Freundinnen untereinander diskutiert, aber wir sahen keine Möglichkeit, das vor Erwachsenen zur Sprache zu bringen. Nie wären wir auf die Idee gekommen, mit diesem Verdacht zu unserem hölzernen Vertrauenslehrer zu rennen.

Viele Lehrer tun sich eh meist schwer, mit ihren Schülern über Sexualität zu sprechen, erst recht bei dem Tabuthema sexualisierte Gewalt. Immer noch folgen zu wenige Schulen (und Vereine) den Konzepten zur Vorbeugung sexueller Gewalt. Aber immerhin gibt es diese Konzepte jetzt nicht nur, sondern ihre Wirkung ist gut erforscht. Sie bauen stark auf Aufklärung, auf Gesprächsangebote und darauf, Kinder so stark zu machen, dass sie Übergriffe nicht verschweigen.

Eines der Trainings, die in Amerika seit mehr als 20 Jahren erfolgreich sind, heisst Flip the Script; salopp übersetzt: Schreib das Drehbuch um! Charlene Senn, Professorin an der Universität von Windsor, entwickelte das Programm schon 2003, als ihr klar wurde, dass die damals bestehenden Programme nicht oder nur kurzfristig Wirkung zeigten. Die Initiative bringt Teenagern bei, wie sie sich Angriffen widersetzen können, und zwar schon bei den ersten Anzeichen. Denn die allermeisten werden nicht von Fremden angegriffen, die nachts hinter Büschen lauern, sondern von Menschen, die sie kennen – Bekannte, Freunde, Klassenkameraden, Studienkollegen. Senn glaubt, das sei wichtig zu wissen, denn »Schock, Unglaube und das in Frage stellen der eigenen Wahrnehmung sind normale Reaktionen, aber sie verhindern, dass wir die Gefahr richtig einschätzen und sofort reagieren.«

Zum zwölfstündigen Training gehören Einsichten wie:

  • Es ist immer der Täter schuld und nur er. Was ein Opfer anhatte, dass eine Frau spätabends ausging oder Alkohol trank, rechtfertigt keinen Übergriff. (Das Training richtet sich an Frauen, weil sie häufiger Opfern der Übergriffe sind und bezeichnet Täter in der männlichen Form, weil mehr als 90 Prozent der Täter Männer sind.)
  • Die meisten Übergriffe (83 Prozent) finden ohne Zeugen statt, aber es gibt oft frühe Warnsignale, etwa wenn jemand immer wieder versucht, einen allein zu erwischen, von der Gruppe zu isolieren oder nicht akzeptiert, dass man keinen weiteren Drink oder nicht mit ins Auto steigen möchte.
  • Das Training fordert die jungen Frauen auch auf, sich über die eigenen Wünsche und Bedürfnisse klar zu werden. Was will ich? Wo liegen meine Grenzen? »Ein sexueller Übergriff beginnt oft mit verbalem Druck«, sagt Senn. »Nach dem Motto: Andere Frauen machen das doch auch. Wie prüde bist du denn, dass du das nicht mitmachst?«
  • Weinen und betteln ist wenig effektiv. »Die effektivste Reaktion ist laut und fies«, sagt Dr. Dusty Johnstone, die das Programm an der Universität von Windsor leitet. Den meisten Mädchen werde von klein auf beigebracht, nett zu sein und nicht zu widerborstig, aber zu dem Training gehört auch körperliche Selbstverteidigung. »Wir bringen den Frauen bei zu atmen und zu schreien. Nutzt eure laute Stimme und wenn das nicht reicht, eure physische Kraft.«

Der Erfolg: Bei den Teilnehmern des Trainings gab es 46 Prozent weniger Vergewaltigungen und zwei Drittel weniger versuchte Vergewaltigungen als bei der Kontrollgruppe. Zwei Jahre nach Ende des Trainings war die Rate immer noch um ein Drittel niedriger.

Warum wird das nicht an jeder Schule und jeder Uni angeboten?