Es war die längste Zeit ein erbärmlicher Sommer gewesen, ein Tag um den anderen Regen. Die Boulevardblätter hatten sogar damit begonnen, ihn auf ihren Titelseiten anzuklagen, wie sie sonst nur das S-Bahn-Chaos anklagten, aber der Regen regnete einfach weiter. So war auch der Berliner Volkspark Friedrichshain zu einem Nicht-Ort geworden. Bloß ein weiterer Platz, an dem man nass wurde.
Sicher, es gab ein paar unverdrossene Jogger und die Hundebesitzer, man konnte sich gut vorstellen, wie lecker die Tiere nach ihrem Auslauf rochen. Aber die waren schließlich immer da und taten einem nicht besonders leid. Nicht so sehr wie die Kinder, die von ihren Eltern in Gummistiefeln in den Niesel gescheucht wurden, weil Kinder nun einmal Frischluft brauchen. Oder wie die Kellnerin im »Pavillon«, die den halben Tag Löcher in die Luft starren musste, weil keiner auf Eis Lust hatte. Auf »Chai Latte Classic« auch nicht. Wer will sich schon Mitte Juli mit Weihnachtsgeschmack demütigen?
Am schlimmsten hatte es die Trennungsväter getroffen. Sonst schnappten sie sich an ihren Besuchssonntagnachmittagen die Kids und radelten mit ihnen durch den Park, sahen den Skatern zu und fütterten die Enten im Schwanenteich, obwohl das verboten war, und wenn sie hinterher im »Schoenbrunn« eine Bionade ausgaben, fühlte sich das Leben endlich unkompliziert an. Nach drei feuchten Sonntagen war es wieder beim gewohnten Status angekommen: anstrengend.
Dabei hatten sich die Friedrichshainer ziemlich sicher (das »ziemlich« steht nur deswegen hier, weil man nicht jeden Einzelnen befragen kann) auch dieses Jahr wieder wie verrückt auf den Volkspark im Sommer gefreut. So wie sich alle Bewohner jeder Großstadt auf den Parksommer freuen. Schließlich kommen Parks erst im Sommer wirklich zu sich. Und schließlich ist der Sommer zwar an vielen Orten gut, aber selten perfekter als in Stadtparks. Wer in den Urlaub fliegt, bekommt nur die Sonne und die Erholung, für die er bezahlt hat, ein Deal, der einen unter Zugzwang setzt, bloß keine Zeit zu vergeuden. In den Parks aber, zu denen man nur eine Fahrt auf dem Rad oder einen Umweg nach Feierabend braucht, ist der Sommer so etwas wie ein Geschenk.
Jeder Park hat seinen ganz eigenen Charakter, der osmotisch mit der ihn umgebenden Stadtlandschaft kommuniziert. Im Pariser Jardin du Luxembourg fühlt man sich von Vernunft die Kieswege entlanggezogen, solide bürgerliche Geometrie bis in die Baumkronenschnitte. Der Central Park ist eine große Geste wie fast alles in New York, ein riesiges Rechteck aus Grün, wie aus der Stadt geschnitten. Der Englische Garten ist ein wenig wie München, nicht ganz bereit dazu, das Ländliche endgültig abzuwerfen. Und der Volkspark Friedrichshain, 1840 zum hundertsten Jahrestag der Thronbesteigung Friedrichs des Großen als erste »allen Ständen zugängliche« Parkanlage Berlins beschlossen? So etwas wie eine Promenadenmischung.
Einerseits romantische Spazierwege, verschlungene Hügelpfade, Bänke für verstohlene Küsse, ein Märchenbrunnen mit Aschenputtel- und Gestiefelter-Kater-Skulpturen, die uralte Geschichten erzählen, ein Indianerspielplatz, auf dem sich Kinder in Rothäute verwandeln. Andererseits: Heroen-Denkmäler aus der untergegangenen DDR, spanische Interbrigadisten und polnische Soldaten. Hier: Wiesen, auf denen man Tage vertrödeln kann. Und gleich daneben: Action-Terrain mit Joggingrunde, Skaterbahn, Trimm-dich-Parcours, Halfpipe, Beachvolleyballfeld, Kletterwall. An manchen Stellen wirkt der Park wie eine dieser Sepia-Postkarten, die man auf Flohmärkten kaufen kann; an anderen wie hyperrealistische Dokumentarfotografie: Graffiti, liegen gebliebener Grillmüll, Absperrungen wegen angeblich nicht mehr standsicherer Bäume. Eingebettet ist der Volkspark in die Mitte einer Stadt, die sich entscheiden kann, ob sie arm, gerecht und verschrabbelt bleiben oder sich ein Metropolen-Upgrade verpassen will.
Auf utopisch unschuldigem Boden geht hier niemand spazieren. Die beiden Bunkerberge heißen so, weil unter ihnen die Flaktürme liegen, die die Nazis im Zweiten Weltkrieg hier errichtet hatten. Als ihre Sprengung 1946 misslang, wurden sie unter dem Bombenschutt aus der Umgebung begraben, über zwei Millionen Kubikmeter Trümmer. »Mont Klamott« wird der höhere der beiden Hügel genannt, in der DDR war er einer der Orte, an denen man die DDR vergessen konnte. Wolf Biermann hat ein Lied über ihn geschrieben, in dem es heißt: »Und als wir oben standen, die Stadt lag fern und tief, da hatten wir vom Halse den ganzen deutschen Mief.« Wahrscheinlich macht auch das Parks im Sommer aus: In ihnen fällt einem die Illusion leicht, ein paar Stunden lang aus der Geschichte aussteigen zu können.
Glücksorte und Freiheitsmaschinen
»Kennst du das?«, fragt Steffi, Anfang 20, Joggerkluft, beim Laufen hatte ihr Pferdeschwanz gewippt. »Wenn der Sommer so magisch ist, dass einem die Regeln egal werden, an die man sich sonst hält?« Erst vor einem Jahr ist sie nach Berlin gezogen, erzählt sie, sie wohnt gleich hier in der Nähe. Die Stadt kenne sie noch immer nicht, weil sie fast immer nur in den Park komme. »Ständig lernt man jemanden kennen. Einmal habe ich an einem einzigen Abend mit zwei Männern geknutscht.« Solche Mikro-Geschichten können fast alle erzählen, die man hier trifft. Falk, Typ: schüchterner Riese, senfbraune Stoffhose und Plastikhemd, hat wochenlang kein einziges Mal beim Blitzschach verloren, ein richtiger Lauf. »Ja, Sie lachen darüber, aber mir macht das gute Laune.« Günther, Mitte 50, Lehrer (und »schön ausgebrannt, sonst würde ich meinen Beruf nicht ernst nehmen«), der sich eines Morgens aus einer Laune zu den »Yoga im Park«-Gummimenschen gestellt hat und dabeigeblieben ist. Nina, die beim Mama-Lauftraining endlich eine Mutter kennengelernt hat, mit der sie sich auch über etwas anderes als über Zahnungsgel unterhalten kann: Wie sich da oben auf dem Grillplatz des Kleinen Bunkerbergs drei Geburtstagsfeste ineinander verknäuelten. Oder wie plötzlich, am helllichten Nachmittag, dieses Mädchen wild zu tanzen begann, zu einer Musik, die nur in ihren Ohrstöpseln war. »Ich könnte mich schlagen dafür, dass ich mich nicht getraut habe, die anzusprechen«, erzählt Felix, 17, schlaksig und auch mit ziemlich viel Überschussenergie unterwegs, muss gleich mit dem Frisbeewerfen weitermachen. Aber die Erinnerung lässt ihn immer noch grinsen.
Stadtparks im Sommer sind so. Glücksorte, Freiheitsmaschinen. In der Kindheit haben sich die großen Ferien ähnlich angefühlt. Ein paar Wochen lang bildet man sich ein, alles könne passieren, und oft genug passiert es sogar tatsächlich. Wer genug solcher Erfahrungen gemacht hat, in dem beginnt irgendwann der unerschütterliche Glaube zu wachsen, dass ein Park jener eine Ort in der Großstadt ist, wo die Menschen ihr Misstrauen abrüsten können und ihre Verdrossenheit schmilzt, an dem man spürt, dass man zusammengehört, alle. Und an dem man die Scheuklappen der eigenen Existenz abstreifen kann. Egal ob man ein Hänger oder ein Macher ist, eine Mutti oder ein Hipster. Wenn man über die Liegewiesen stapft, kann man ja selbst beobachten, wie sich Tupperware-Familien und Teenie-Cliquen und Bücherverschlinger und Trinker auf demselben Terrain niederlassen und miteinander vertragen können. Schon weil sich in Sommerparks niemand die Mühe machen will, andere zu verachten. Natürlich ist das nur eine schöne Illusion, die dem ernsten Blick von Soziologen nicht standhielte. Aber der Sommer hat mit dem Park gemeinsam, dass sie beide den Möglichkeitssinn nähren.
Mitte August hatte sich der Sommer schließlich doch noch einen Ruck gegeben, es wurde warm, der Himmel schien leichter, als hätte er mit den Wolken Gewicht verloren. Man sah die Frauen wieder Sommerfähnchen tragen statt Pullover, die zur Not nass werden konnten, in den Sandkästen krabbelten wieder Babys. Es war noch nicht wirklich heiß, erst auf dem Weg dahin, aber zwei Jungs konnten nicht an sich halten und zogen sich aus, um unter die Wasseruhr zu rennen und sich kreischend nass spritzen zu lassen. Am großen Teich ältere Damen aus den nahen Plattenbauten, die dem Wasserfallrauschen der Fontäne zuhörten.
Als nach zwei Tagen die Wiesen so abgetrocknet waren, dass man sich nicht mehr die Kleidung versaute, kamen abends die Friedrichshainer aus der Umgebung, um ihre Sommerparkpositionen einzunehmen, Frauen mit hochgekrempelten Hosen, die Schuhe ins Gras abgeworfen, an den Oberkörpern der Männer konnte man ablesen, ob sie schon im Urlaub gewesen waren.
Nun saßen sie da, dicht an dicht, ein paar Hundert, dazwischen Rucksäcke, Kühltaschen, Bierkästen, Fahrräder. Sie hatten nichts Bestimmtes vor, sie wollten bloß dabei sein, wenn es in diesem Jahr endlich losging. In der Luft standen Grillschwaden, von da oder dort wehte ein Rauch, bei dem man merkte, dass man den Geruch von Gras nie wieder vergessen kann. Dann packte jemand eine Ukulele aus und begann Stairway to Heaven zu klampfen, es klang grotesk und völlig richtig.
So war das Mitte August, als wir in den Park gekommen waren, ein Schwarm, der sich ohne Absprache gefunden hatte. Weil wir uns einbildeten: Jetzt bleibt der Sommer bei uns. Und weil er sich so lange Zeit gelassen hatte, würde er vielleicht besser werden als alle Sommer zuvor.
Foto: Felix Brüggemann