Der sibirische Mogli stottert. Er ist schüchtern und wirkt auf manchen ein wenig zurückgeblieben. Eine Frau hatte ihn im Wald aufgefunden und in die Stadt gebracht. Sie hatte Angst, Mogli überlebe den sibirischen Winter nicht. Russische Zeitungen nennen den jungen Mann aus der Taiga den »Waldjungen«. Oder Mogli, wie das indische Dschungelkind in den Erzählungen von Rudyard Kipling, das bei wilden Tieren aufwächst. Russen lieben dieses Buch und den Disney-Film. Jedes Kind bekommt die Geschichte vorgelesen.
Der sibirische Mogli ist schon zwanzig Jahre alt, als er im September 2013 in der zivilisierten Welt auftaucht. Er heißt Adschan Naumkin und meldet sich bei der Polizei in Belokuricha, einem schönen Kurort am Rande des Altai-Gebirges, im Südwesten von Sibirien. Man kann Skifahren in der Nähe der Stadt, die in ganz Russland für ihre Schwefelquellen und Bäder bekannt ist. Adschan Naumkin erzählt, dass er 16 Jahre in einer Hütte im Wald gelebt hat. Ohne Strom, allein mit seinen Eltern. Nie habe er eine Schule besucht. Die Eltern hätten ihn dort vor vier Monaten verlassen. Seitdem habe er nichts mehr von ihnen gehört.
Die Polizei verständigt den Staatsanwalt, der verständigt die Presse. Er ist es, der zum ersten Mal von einem Waldjungen, von einem Mogli aus der Taiga spricht. Er sagt, Adschan Naumkin habe keine Vorstellung von der zivilisierten Welt und es mangele ihm an Umgangsformen. Aber in einer Hinsicht kann der Staatsanwalt seine Landsleute beruhigen: Familie Naumkin gehört keiner Sekte an und ist nicht aus religiösen Gründen in den Wald gezogen, sie floh vor der Umweltverschmutzung und dem allgemeinen Kulturverfall.
Mogli ist ein zauberhafter Name, und die Legenden vom Jungen, der in der wilden Natur aufwächst, faszinieren Menschen in der ganzen Welt. Jede Kultur und jede Zeit kennt eine eigene Version des Stoffes, sei es der Mythos von Romulus und Remus oder der historische Fall Kaspar Hauser. Die Wissenschaft hat wilde Kinder benutzt, um die Entstehung von Sprache zu erforschen. Die Zivilisation beneidet wilde Kinder um ihre Naturverbundenheit. Welcher Stadtmensch wäre nicht gerne einen Tag lang Waldmensch, oder würde gerne einen echten Mogli kennenlernen, im Zweifel wenigstens über ihn lesen? Mogli-Geschichten gehen in der Zeitung immer gut.
Die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti verbreitet die Meldung vom sibirischen Mogli am 9. September 2013, Agence France Presse folgt am Tag darauf, Tageszeitungen in der ganzen Welt drucken die französische Meldung nach, einige schmücken sie mit immer neuen Details aus, ohne nochmals mit Naumkin gesprochen zu haben: Mogli hat Angst vor dem Hungertod. Seine Familie lebt vom Pilzesammeln. In der einen Zeitung stottert Mogli, in der anderen kann er kaum reden, eine dritte vermeldet, dass ein Arzt Mogli für völlig gesund erklärt hat. Es läuft ein bisschen wie bei dem Spiel Stille Post: Viele Tageszeitungen schreiben voneinander ab und verändern die nackten Nachrichten immer weiter.
Die Staatsanwaltschaft zeigt Adschans Eltern wegen Verletzung der Schulpflicht an. Helfen können die Behörden dem Jungen nicht. Ohne Papiere gibt es in Russland keine Lebensmittelbezugsscheine oder finanzielle Unterstützung. Natürlich hat Adschan keinen Ausweis. Er will in den Wald zurückkehren, er muss ja Holz sammeln für den Winter. Er wollte ohnehin nur wissen, ob jemand in der Stadt etwas von seinen Eltern gehört hat. Aber das Fernsehen lädt ihn ein, in die Live-Sendung »Prjamoj efir« beim Sender Rossija 1. »Wie bekommen wir ihn nur von Sibirien nach Moskau?«, fragt eine Redakteurin bei Kollegen in Belokuricha an. »Müssen wir Mogli für den Transport in einen Käfig stecken?« Adschan schiebt das Holzsammeln auf. In Moskau war er schließlich noch nie. Er fliegt Economy, wie ein normaler Passagier. Ein sibirisches Online-Magazin berichtet vom ersten Aufenthalt in der Großstadt: »Mogli verweigert Big Mac und verlangt stattdessen Besuch in der Tretyakow-Galerie.« Und: »Mogli kennt sich in der Kunstgeschichte aus.«
Schon am 19. September 2013, kaum zwei Wochen nachdem er die Taiga verlassen hat, sitzt Adschan alias Mogli im russischen Fernsehen. Er ist schmal, er trägt das dunkle Haar etwas länger, war aber offenbar beim Friseur, er ist adrett gekleidet in Jeans, Hemd und Pullover, redet leise und langsam, stottert nicht. »Sie haben mitten in der Wildnis gelebt, aber Sie können fließend englisch sprechen?«, fragt der Moderator –»Yes, indeed«, antwortet Adschan mit starkem Akzent und das Publikum im Studio raunt leise. Als ob es gerade einen Affen sprechen gehört hat.
Der Moderator erzählt Adschans Geschichte, der nickt beipflichtend mit dem Kopf. Dann lässt der Moderator einen kurzen Film einspielen, auf dem die Hütte zu sehen ist, in der Adschan aufgewachsen ist: eine Blockhütte inmitten von Bäumen. Sie hat einen Anbau, unter dem Dach schaut ein Stück Plastikfolie hervor. Die Hütte hat Fenster. Adschan zeigt den Innenraum, in einer Ecke der Schreibtisch, an dem er Englisch gelernt hat. Ein paar Bücher stehen im Regal: Geschichte und Kunstgeschichte. Und dann stellt Adschan auch seine Eltern vor, die zwischenzeitlich in die Blockhütte in der Taiga heimgekehrt sind: Alexander, ein Maler, und Elena, eine ehemalige Lehrerin, die ihm Englisch und auch alles andere beigebracht hat, was Kinder eigentlich in der Schule lernen sollten. Mogli, das wird allmählich klar, ist gar kein Wilder, er ist ein gebildeter junger Mann. Ein bisschen wortkarg, aber sympathisch. Auch die verschrobenen Eltern kommen in dem Film zu Wort: »Wir wollen nicht mehr zurück in die Zivilisation, wo alles nach Benzin oder bestenfalls nach Waschpulver stinkt«, sagt der Vater. Die Mutter: »Ich bin ausgebildete Musikerin und finde abstoßend, was in der Stadt heutzutage für Musik gespielt wird. Das hält mich von einer Rückkehr ab.«
Aus den Weiten Sibiriens sind schon zahllose Moglis aufgetaucht: Andrej Tolstyk war sieben Jahre alt, als man ihn 2004 in Sibirien bei wilden Hunden entdeckte, seine Eltern hatten ihn im Wald zurückgelassen, wo er wie Romulus und Remus aufwuchs. In den Städten greift man bis heute verwahrloste Kinder auf, die oft gefangengehalten wurden: Im Jahr 2008 befreite man in Wolgograd einen sechsjährigen Jungen, den seine Mutter in der Wohnung eingesperrt hatte. Er konnte nicht sprechen und gab nur Krächz-Laute von sich, mit denen er den Papagei in der Wohnung imitierte. 2011 wurden in St. Petersburg zwei Mädchen bei obdachlosen Alkoholikern gefunden. Die zwei und vier Jahre alten Mädchen konnten nicht sprechen, ihre Dankbarkeit für Essen drückten sie durch das Lecken der Hände ihrer Wohltäter aus. In Westeuropa sind wilde Kinder länger bekannt: Das »Wilde Mädchen der Champagne« von 1731 fand sich in der Stadt nie zurecht und ging ins Kloster. Der »Wilde Junge von Aveyron« wurde im Jahr 1800 nach Paris gebracht, wo ein Medizinstudent ihn untersuchte. Er gab ihm den Namen Victor und brachte ihm Lesen und das Sprechen einiger weniger Wörter bei. Oft genug verbarg sich hinter der rührseligen Geschichte eines glücklichen Moglis ein verzweifelter Kaspar Hauser. Bei dem durfte man sich nicht ganz sicher sein, ob er seine nie zweifellos geklärte Herkunft nicht einfach erfunden hat.
Der letzte Mogli wurde 2011 in Berlin gemeldet: Ein neunzehnjähriger Junge stellte sich als Ray vor und berichtete auf englisch von fünf Jahren, die er mit seinem Vater im Wald irgendwo in Brandenburg verbracht haben wollte, bis der gestorben sei und er ihn begraben musste. Außerdem habe er sein Gedächtnis verloren. Dieser Mogli war ein Hochstapler. Schulfreunde aus Holland erkannten sein Foto in der Zeitung, als die Geschichte um die Welt ging. Seine Stiefmutter klärte die Berliner Behörden auf: Ray hieß in Wirklichkeit Robin van Helsum, hatte in Holland Mietschulden und eine schwangere Ex-Freundin hinter sich gelassen. Der junge Mann wurde zu 150 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt, weil er zu Unrecht Hilfsgelder und Betreuungskosten in Höhe von 29.481,88 Euro in Anspruch genommen hatte.
Schon der vorletzte Mogli war kein echter: Im Jahr 2005 wurde »Piano-Man« durchnässt und sprachlos auf der englischen Insel Sheppey nahe Kent gefunden. Als Psychiater ihm ein Stück Papier vorlegten, malte er einen Flügel. Ein Konzertpianist, der sein Gedächtnis samt Sprachvermögen verloren hat, dachte man und steckte ihn in eine Psychiatrische Anstalt. Dabei war er nur ein gelangweilter Bauernsohn aus Waldkirchen im Bayerischen Wald und gänzlich unmusikalisch. Stadtmenschen lieben die Geschichten von Kindern und Jugendlichen, die in der Natur aufwachsen sind, in jedem Fall, ob sie nun wahr oder erfunden sind. Die Sehnsucht ist oft so groß, dass man gar nicht genau hinsieht, sobald ein neuer Mogli auftaucht.
Man hätte es auch im Fall des sibirischen Moglis besser wissen können: Die Tageszeitung Russia! erwähnte schon am 11. September, dass Adschan ein Mobiltelefon besäße und mit dem Internet umgehen könne. Die Eltern wünschten sich laut Sohn, dass er einmal ein berühmter Künstler oder Schriftsteller werde. Ein Internet-Mogli mit Karriere-Ambitionen für die feine Gesellschaft in Moskau?
Berühmt ist Adschan geworden, aber seine Mogli-Vergangenheit auch maßlos übertrieben. Ihr wahrer Kern: Die Hütte seiner Eltern steht im Wald, aber nahe am Stadtrand von Belokuricha. Die nächste Bushaltestelle ist lediglich drei Kilometer entfernt. Adschans Eltern haben tatsächlich keinen Strom in der Hütte, aber der Vater verkaufte seine Bilder in der Stadt, die Mutter ging dreimal die Woche im Supermarkt einkaufen.
Nach einem Streit fand Adschan einen Zettel auf dem Küchentisch: Die Eltern seien Richtung Wladiwostok aufgebrochen, der Sohn möge sie nicht suchen, sondern endlich sein eigenes Leben leben. Vier Monate später meldete sich Adschan bei der Stadt, um sich nach den Eltern zu erkundigen. Er wurde stundenlang verhört, bis der Staatsanwalt seine aufgebauschte Meldung vom Waldjungen aus der Taiga veröffentlichte, der seit 16 Jahren überhaupt keinen Kontakt zur Außenwelt gehabt hätte.
Adschan hat es versäumt, die Fehler in der Pressemeldung des sensationslüsternen Staatsanwalts und in den ersten Zeitungsartikeln zu korrigieren. Aber wie sollte er? Die meisten Journalisten haben ja gar nicht mit ihm gesprochen. Er hätte bei seinem Fernsehauftritt alles aufklären können, aber der Moderator fand mehr Gefallen an einem falschen Mogli als einem echten Adschan. »Ich bin eigentlich nur dagesessen, das können Sie ja noch sehen im Internet. Und der hat geredet und geredet und geredet und ich konnte nur kurz die Fragen beantworten, aber nichts richtig stellen. Ich wollte immer etwas sagen, aber man ließ mich nicht.« Eine Gage für seinen Auftritt hat Adschan nicht bekommen. Aber er wollte höflich sein, schließlich hatte ihn der Fernsehsender nach Moskau eingeladen. So schwieg er und ließ den Moderator gewähren. Gelogen hat Adschan selbst nicht. Der Moderator hat die entscheidende Frage sorgsam vermieden, wie weit die Hütte der Familie von der nächsten Stadt entfernt liegt. Die Faszination von Mogli ist für Journalisten sehr verführerisch.
Adschan hat nach seinem großen Auftritt als Mogli allein in Belokuricha gelebt. Er ging dort ein halbes Jahr zur Schule und holte den Abschluss der vierten Klasse nach. Danach musste er Geld verdienen und suchte eine Ausbildungsstelle. Manchmal hat er seine Eltern besucht, die wieder in die Hütte gezogen sind. Er ist dann einfach in den Linienbus gestiegen und dann noch ein Stück zu Fuß gelaufen.
Zwei deutsche Journalisten wollten Adschan in der Einsamkeit Sibiriens besuchen. Nach drei Monaten bekamen sie ihn schließlich ans Telefon. Adschan zeigte sich erstaunt, dass man sogar im Westeuropa von ihm gehört hatte. Natürlich dürften wir ihn in der einsamen Hütte in der Taiga besuchen, das sei durchaus machbar. Die Macher der russischen TV-Show hatten Adschan inständig darum gebeten, gegenüber der deutschen Presse bei der Mogli-Version aus dem Fernsehen zu bleiben. Aber beim dritten Telefonat tauchten erste Widersprüche in seinen Erzählungen auf. Adschan gab schließlich zu, dass er gar kein Mogli sei. Adschan wirkte erleichtert. Mogli zu spielen ist sehr anstrengend. Im Frühjahr 2014 wurde Adschans Talkshow-Auftritt beim russischen Fernsehen im Internet kommentarlos gelöscht. Vergangenen Herbst zog er nach Nowosibirsk, um ein Kunststudium zu beginnen. Adschan hat mit der Malerei begonnen, und kellnert nebenbei. Russland hat bis Frühjahr 2015 an den sibirischen Mogli geglaubt. Erst dann korrigierte ein sibirisches Online-Magazin Adschans Geschichte. Die Korrektur ging nicht um die Welt. Auch in Russland wurde sie bisher nicht nachgedruckt.
Fotos: Anna Zaikova