Christian Zehnders Schrei geht durch Mark und Bein. Und dann antwortet der Berg. Die senkrechte Felswand wirft das »Ijohu« kraftvoll zurück, zu »Ohu« verkürzt gleitet der Ruf den Hang ins Tal hinunter, bei jeder Wiederholung etwas schwächer. Das vierte und letzte »Ohu« ist nur noch ein Hauch. »Gar nicht so schlecht«, sagt Zehnder. »Aber drüben am See werden die Echos noch viel besser.«
Zehnder wandert im Alpstein, einem Kalksteinmassiv im Nordosten der Schweiz. Karg ist dieses Gebirge, voller zerklüfteter Wände, die wie gefaltete Umzugskartons in der Landschaft lehnen. In der Ferne schimmert der Bodensee. Graspolster und Büsche säumen den Weg, ein paar Bäume stechen mit ihrem bunten Herbstlaub noch aus den Wiesenmatten der Täler heraus. »Unwirklich schön« findet Zehnder die Gegend, aber er verweilt nur kurz an dieser Stelle. Wer sich für Echos interessiert, braucht nicht nur eine kräftige Stimme, sondern auch kräftige Beine.
Was Christian Zehnder, ein 56-jähriger Schweizer, hier oben sucht, findet er nur, wenn er schreit. Möglichst ungehemmt und laut. Immer wieder auf der zweitägigen Bergtour bleibt er stehen, um die Hände als Trichter an den Mund zu legen. Sein ganzer fast zwei Meter langer Körper steht unter Spannung, wenn er seine Energie in wenigen Silben bündelt. Hu, Huou, Ijohu! Zwei, drei kurze Explosionen. Juchzer oder Juutzer heißen diese Rufe hier in der Schweiz. Je prägnanter der Juchzer, desto deutlicher das Echo.
»Enge, tiefe Täler sind besonders geeignet für Echos«, sagt Zehnder während des Abstiegs durch die Zaalugge. Aber Echos gebe es auch am Waldrand, unter Brücken oder in einer sanften Hügellandschaft. Man könne nie vorhersagen, wo das Echo zurückrufe – eine Wiese, die im Frühling reflektiere, könne im Herbst stumm bleiben. »Da hilft nur ein Versuch.«
Oder EchoTopos, eine Smartphone-App, die Zehnder zusammen mit dem Softwaredesigner Fabio Soldati entwickelt hat. Soldati ist der Erfinder von PeakFinder, einer App, mit der man Gipfel anhand ihrer Umrisse bestimmen kann und die schon Hundertausende Male heruntergeladen wurde. Auch die Echo-App ist übersichtlich gestaltet und einfach zu handhaben. Sie besteht aus einer Karte, auf der Echo-Orte verzeichnet sind. Jeder Wanderer kann sie eintragen, beschreiben und per GPS verorten. Zehnder zeigt sein Telefon: »Die blauen Punkte sind Echos, die Benutzer gemeldet haben.« Gerade hier im Appenzellerland wimmelt es davon, mehr als ein Dutzend Echos sind allein im Alpstein verzeichnet. »Wir prüfen die Echos«, erklärt Zehnder, »und nehmen sie schließlich mit einem besonderen Verfahren auf.« Dafür schleppen er und seine Mitstreiter regelmäßig dreißig Kilo Aufnahmetechnik auf die Berge, mitsamt einem künstlichen Schädel, in dem empfindliche Spezialmikrofone montiert sind – so lässt sich das räumliche Hören exakt nachbilden. Ein auf diese Art verifiziertes Echo wird in der App mit einem roten Punkt markiert.
Eine »alpine Klangskulptur« nennt Zehnder sein Projekt. »Der Berg spielt mit dir, und du spielst mit dem Berg.« All jenen, die das Echo für Touri-Folklore halten, will er zeigen, wie tief diese archaische Kommunikationsform in der Schweiz verwurzelt ist – und wie avantgardistisch sie sich doch anhören kann. Sogar ganze Kompositionsaufträge will er für die besten Echo-Orte vergeben. Aufführungsort: das Gebirge.
Vorerst schreit er aber einfach nur, hier an der Saxer Lücke, bei 47°14’50"N, 9°25’28"E. »Den Juchz am besten mit Blick Richtung Linthal und Chrüzberg«, empfiehlt EchoTopos. Zehnders Juchzer wandern am Fels entlang, recht zufrieden ist er nicht. Der Wind hat gerade aufgefrischt und macht seinen Rufen zu schaffen.
Im Grunde ist der physikalische Vorgang, bei dem ein Echo entsteht, ziemlich simpel: Bestimmte Oberflächen, zum Beispiel Bergwände, sind so beschaffen, dass sie einen Klang verzögert reflektieren und diese Reflexion dann wie ein neues, vom Originalklang getrenntes Geräusch wirkt. In der Praxis oben am Berg gehe es jedoch nicht so vorhersehbar ab wie im physikalischen Modell, sagt Zehnder. »Da spielen so viele Faktoren mit hinein, dass das eher ein Fall für die Chaosforschung ist.« Das Echo bleibe stets auch »rätselhaft«.
Das Sammeln und Archivieren von Echos ist nur eine von vielen Leidenschaften, die Zehnder beschäftigen. Von Beruf ist er Musiker und Stimmkünstler. Am Abend, auf der Terrasse des Berggasthofs »Bollenwees«, gärt es auf einmal in Zehnders Innerem, und ein schauriges Röcheln entfährt seinem Körper – Ausdruck seiner Bewunderung für die Finessen des Thrash-Metal-Gesangs. Es dauert nur ein paar Sekunden, aber schon haben sich etliche Leute nach ihm umgedreht. Brachialer Noise-Rock ist einer von zahlreichen Einflüssen, die Zehnder in seiner Musik verarbeitet. Seine größte Spezialität ist der Obertongesang, eine schwierige Vokaltechnik, mittels der man mit sich selbst im Duett singen kann. Zehnders Konzerte sind ein Summen, Singen, Jodeln, Gurgeln irgendwo zwischen Karlheinz Stockhausen und dem Kehlgesang der Mongolei, zwischen dem Belcanto der italienischen Oper und den Jodlern der Pygmäen. Experimentell, grenzwertig, virtuos.
Besonders interessiert ihn das Archaische an der Musik, und im Kanton Appenzell ist man mittendrin in der Schweizer Urmusik. Vor dem Hotel wird schon am frühen Morgen gezauert. Sechs Buben, ebenfalls auf einer Wanderung, stehen vor der Hütte und singen. Keine Lieder – sie intonieren Vokale. Abstrakte, wortlose Dreiklänge. Die Jungs, zwischen zehn und zwanzig Jahre alt, tragen Jeans und Fleece-Pullover. Zwei von ihnen haben die traditionelle Zipfelmütze auf dem Kopf.
Typisch Appenzell, meint Zehnder, der selbst in dieser Region seine Wurzeln hat. »Hier sind noch Urgesänge und Traditionen allgegenwärtig, die anderswo längst ausgestorben sind.« Seit Jahrzehnten setzt sich Zehnder mit musikalischen Bräuchen auseinander, die aus einer Zeit stammen, »als die Schweizer noch als Nomaden durch die Täler zogen«. Im Appenzellerland gebe es Gesänge und Rufe, die bis in vorchristliche, animistische Zeit zurückreichten. Auch Zehnders Juchzer stehen in dieser Tradition. »Juchzer waren eine Art Visitenkarte in den abgelegenen Tälern«, erklärt er: »Das ist der Sepp, und das ist der Hans. Du siehst ihn nicht, aber du hörst ihn.« Ein Gruß, ein Ritus, der zuallererst bedeute: »Ich bin noch hier. Du bist nicht allein. Alles okay.« Später entstanden die Bet-Rufe. Schutzgebete, die der Senn am Abend in alle Himmelsrichtungen intonierte. »Das sind schon sehr berührende Kommunikationsformen«, findet Zehnder.
Schon als Kind kraxelte Christian Zehnder in den Schweizer Bergen herum. Als Jugendlicher wäre er beinahe Skirennläufer geworden. Jede Menge Drei- und Viertausender hat er bestiegen, Wände erklettert, ganze Gebirgszüge durchwandert. Das Zauern und Jodeln hätten ihn früher allerdings überhaupt nicht interessiert, sagt er, als er nach dem Frühstück wieder den Rucksack schultert. Volksmusik sei für ihn als Kind der Sechzigerjahre das blanke Grauen gewesen. Aber oben im Gebirge hätten ihn die alten Klänge doch berührt. »Da klang es anders und irgendwie abgefahren.«
Viel später, nach seinem Gitarrenstudium und der Gesangsausbildung, habe er sich mit Weltmusik auseinandergesetzt, insbesondere mit afrikanischen Gesangsstilen, und schließlich über diesen interkontinentalen Umweg zur Urmusik der Schweiz gefunden. In den Neunzigerjahren trat Zehnder mit Alphorn und Akkordeon auf, begleitet von einer Melkmaschine und Kuckucksuhren. Diese Performance spielte mit den Klischees der alpinen Kitschkultur. Inzwischen sind seine Konzerte ernster geworden. Das Jodeln, »der Schweizer Blues«, wie er es nennt, gehört aber nach wie vor zu seinem Repertoire.
»Die Wellen gefallen mir gar nicht«, sagt Zehnder, als er den Fälensee entlangmarschiert. Weil das längliche Gewässer von gigantischen Felswänden eingezwängt wird, heißt es auch »Schweizer Fjord«. Die Sonne kriecht über den Grat und lässt die Wasseroberfläche wie zerknitterte Alufolie glänzen. »Wind ist der größte Feind des Echos«, erklärt Zehnder und gibt das Fälensee-Echo auf. »Keine Chance.«
Stattdessen bleibt er an einer windgeschützten Stelle stehen und horcht in die Landschaft. Kuhglocken bimmeln, Insekten summen, Wellen und Wind sind zu hören. »Wenn man mit offenen Ohren durch die Berge geht, verändert sich die Wahrnehmung«, sagt Zehnder und schließt die Augen. »Dann beginnt das ganze Gebirge zu klingen.«
Als »Grundlagenforschung« bezeichnet Zehnder seine Jagd auf Echos. Als Mensch brauche man die Resonanz, in einem akustisch toten Raum würde man eingehen. Erst recht als Musiker. »Mein erster Partner als Sänger ist ja der Raum.« In Dörfern besucht er deshalb gern die örtlichen Kirchen und testet deren Klang mit ein paar Takten seines Gesangs; jeder Kirchenraum höre sich anders an. Und auch die Berge seien ja auf gewisse Weise Architektur: »Kathedralen ohne Dächer«, wie Zehnder es formuliert.
An der Fälenalp, wo sich die Wände wie ein Schiffsrumpf erheben, wird deutlich, was er meint. 47°14’56"N, 9°24’20"E: »Ein extrem deutliches Echo von beiden Seiten hin und her zwischen Hundstein und Roslenfirst. Das Echo wandert talabwärts«, steht in der App. Bis zu neun sehr schnell aufeinanderfolgende Echos sollen zu hören sein. Zehnder klettert trotz des immer stärkeren Winds auf einen Findling und juchzt, so laut er kann. »Wuijoohuhuuu!« Aber nichts. Nur der Wind heult in den Ohren.
Erst ein paar hundert Meter weiter oben schenkt der Berg Zehnder ein leises Wanderecho. Flink wie eine Eidechse huscht es am Kalkfelsen entlang und ist auch gleich wieder verschwunden. Die Sonne scheint am wolkenlosen Himmel. Der Altmann, zweithöchster Gipfel der Appenzeller Alpen, überragt die umliegenden Berge mit seinen Zacken. Auch das Chrüzberg-Echo will Zehnder sich auf keinen Fall entgehen lassen. Ein verifiziertes siebenfaches Echo und einer der Höhepunkte im Alpsteinmassiv. »Ein sehr musikalisches Echo«, meint die App, »das von der Chrüzberg-Kette zurückkommt und mit dem Saxerfirst ein Duett singt.« An diesem Tag bleibt aber lediglich der spektakuläre Ausblick. Zehnder schreit in den Wind, der Sturm zerzaust ihm die Haare. Zu hören ist nur das Knattern seiner Kapuze. In der Zwinglipasshütte reicht die Aussicht vom Piz Palü bis zum Mönch, im Vordergrund sieht man die Churfirsten-Kette mit ihren viel zu steilen Gipfeln, die aussehen, als hätte sie ein Designer am Bildschirm entworfen. Beim »Kafischnaps«, einer Schweizer Spezialität aus einer Schale Kaffee mit einer Portion Kräuterschnaps, erzählt Zehnder die Sage vom Alpbauern, dem der Berg eines Tages verkündet, dass er seine Last nicht mehr halten könne. »Mag’s nümm ha«, sagt der Berg: Mag es nicht mehr halten. Der Bauer verhandelt zwei Tage lang mit dem Berg. »Heb’s no«, bittet er ihn, bald sei er sowieso wieder mit den Kühen unten. Aber der Berg stöhnt und ächzt, und so fügt sich der Bauer schließlich in sein Schicksal und wird samt Haus und Vieh vom Felssturz begraben.
»Akzeptieren, ohne zu jammern«, sagt Zehnder, das gehöre zum Charakter der Schweizer Bergler: hinzunehmen, dass die elementaren Kräfte stärker sind als man selbst. Heute will der Berg nicht mehr antworten, da kann Zehnder noch so laut juchzen. Aber vielleicht morgen.
Fotos: Peter Neusser