Dieser Mann ist eine Legende Der Barkeeper Kazuo Ueda von der »Tender Bar« in Tokio beim Mixen seines legendären Cocktails »Fantastic Lemon«.
Der Sake ist sicher. Das weiß Tokios berühmter Barkeeper Kazuo Ueda gewiss. Ueda spricht kein Englisch, er lässt den Satz einen seiner Angestellten dem Gast vor dem Tresen übersetzen. Die Frage nach dem Sake hat sein Missfallen erregt. Ueda empfindet sie offenbar – wie viele Japaner – als unangemessene Einmischung eines ängstlichen Ausländers in innere Angelegenheiten; es ist ein verbreiteter Reflex auf die verbreitete Ignoranz, die im Westen gegenüber japanischen Gepflogenheiten herrscht.
Ueda ist 67. Er hat den »Hard Shake« erfunden, bei dem man den Shaker im rhythmischen Wechsel leicht nach oben, in der Mitte und nach unten schüttelt. Es ist eine Bewegung, die das Eis und auch den Geschmack besser abrundet, ein weiterer kleiner Schritt auf dem Weg zum perfekten Cocktail. Ueda mixt einen »Fantastic Lemon«, den Longdrink, mit dem er 1981 eine Silbermedaille bei einem Wettbewerb in Genf gewann. Es ist sein großer Klassiker: mit Cointreau, Kirschlikör, Zitronensaft, Curaçao, etwas Tonic und viel Sake, für umgerechnet 35 Euro. Ueda mixt ihn mit Sake aus dem Norden Japans, von einer Brauerei in der Präfektur Miyagi, die unmittelbar an das verstrahlte Gebiet um Fukushima grenzt.
Erst Fisch, dann Gemüse und Grüner Tee, und nun auch noch der Sake.
Einige der besten Brauereien liegen im Norden von Tokio, unweit der verstrahlten Gebiete. Reiswein ist in aller Welt gefragt wie nie, auch deutsche Barkeeper fürchten um Nachschub, aber Kazuo Ueda teilt die Sorgen seiner Kollegen im Ausland nicht. Auch nicht seine Gäste. Sake aus dem Norden Japans verkauft sich seit dem Atomunglück besser als je zuvor. In Uedas Bar und im ganzen Land. Japaner trinken Sake aus Solidarität, genauso wie sie vor Monaten schon radioaktiv belastetes Gemüse aus Fukushima aßen und die Prada- und Gucci-Filialen in der Präfektur leer kauften.
Uedas »Tender Bar« liegt in Tokios Amüsierviertel Ginza, 270 Kilometer entfernt vom Unfallreaktor Daiichi in Fukushima. Selbst Ginzas Straßen sind schummrig in der Nacht; die meisten Neonlichter bleiben ausgeschaltet, man will Strom sparen. Die Klimaanlagen haben im Sommer nur mehr auf 25 Grad gekühlt. Aber die Toilettenbrillen sind immer noch beheizt. Auch in warmen Spätsommernächten. In der ganzen Stadt wird die Strahlenbelastung gemessen, der Uedas Bar am nächsten gelegene Messpunkt zeigt 0,06 Mikrosievert pro Stunde an, das ist weniger als der durchschnittliche Wert in New York oder Berlin, gerade mal ein Hundertstel jener Strahlung, der man während jeder Stunde eines Fluges von Deutschland nach Tokio ausgesetzt ist.
1500 Sake-Brauereien gibt es in ganz Japan. Im Norden wurde eine Handvoll durch das Erdbeben zerstört, ein Dutzend durch die Tsunami-Welle, etwa die Brauerei in Shiogama an der Küste, wo 15 000 Flaschen zu Bruch gingen. Deutlich mehr Brauereien sind durch die ausgetretene Strahlung im Fallout-Gebiet bedroht. Zum Beispiel Ninki-Ichi, ein bekanntes Familienunternehmen mit 25 Angestellten, das japanische Autorennen sponsert und Sake exportiert, nach Korea, China, Hongkong, Singapur, Taiwan, die USA und auch nach Deutschland. Hundert Euro kostet die teuerste Flasche von Ninki-Ichi über den Düsseldorfer Importeur Ueno Gourmet in Deutschland.
Die Brauerei steht 200 Kilometer nördlich von Tokio in der Präfektur Fukushima, 20 Kilometer südlich von der stark verstrahlten Kreisstadt Fukushima und 58 Kilometer westlich vom havarierten Atomkraftwerk.
Immer noch liegen blaue Plastikplanen auf vielen Giebeldächern, an den Ecken, wo das Dach den Erdbebenstößen nicht standhalten konnte. Es sind kaum 90 Minuten Fahrt mit dem Shinkansen-Schnellzug von Tokio und noch mal zehn Minuten im Bummelzug. In Nihonmatsu freut man sich über neugierige Besucher aus dem Westen. Viele waren es nicht im vergangenen halben Jahr.
»Hotspot«, erklärt Yusa mit Schulterzucken
Sake lässt sich gut mixen, deshalb fürchten Barkeeper aus aller Welt, dass der neue Sake-Jahrgang verstrahlt sein könnte. Der »Fantastic Lemon« ist allerdings von Natur aus strahlend blau.
Acht Messpunkte an unterschiedlichen Orten gibt es in der Kleinstadt, die Messwerte werden mehrmals am Tag abgelesen und im Internet veröffentlicht. Greenpeace, das die Messungen der Regierung sporadisch überprüft, hat bisher keine nennenswerten Abweichungen festgestellt. Der Fallout des Reaktors streifte Nihonmatsu, aber der Ort war einer geringeren Strahlung ausgesetzt als die 20 Kilometer weiter nördlich liegende Kreisstadt Fukushima, in der man die Grenzwerte nachträglich nach oben korrigierte, nur um eine gesetzlich vorgesehene Zwangsschließung aller Schulen zu umgehen. Die Strahlung fiel zu jedem Zeitpunkt stärker aus als etwa in Tokio. Für diesen Spätsommervormittag in Nihonmatsu werden 1,4 Mikrosievert pro Stunde im Innenraum eines Autos gemessen. Außerhalb geschlossener Räume beträgt der Strahlenwert schon 1,6 Mikrosievert, ein Wert, der nach ein, zwei Tagen Aufenthalt in etwa der Dosis einer Röntgenaufnahme des Brustkorbs entspricht.
Yujin Yusa ist Eigentümer der Brauerei Ninki-Ichi, die seit 250 Jahren Sake herstellt. Die Brauerei liegt auf einem kleinen Hügel am Waldrand, etwa zwei Kilometer außerhalb von Nihonmatsu. Im März schloss Yusa die Brauerei, im Mai öffnete er sie wieder.
Der Brauereibesitzer springt aus dem Auto und eilt über den Parkplatz in sein Büro. Vor zwei Wochen erst hat die Stadt sein Gelände auf Strahlung überprüft. In sämtlichen geschlossenen Räumen lag sie unter 1,0 Mikrosievert pro Stunde, auf dem Parkplatz aber lag sie über 4,0 – »Hotspot«, erklärt Yusa mit Schulterzucken. Überall in Fukushima ist die Strahlung am Boden unregelmäßig verteilt. Wo sich Regenwasser sammelt, ist sie meist höher. So eine höher belastete Stelle nennen Atomphysiker Hotspot. Am stärker belasteten Parkplatz der Brauerei bekommen die Angestellten, übers Jahr gesehen, eine Dosis ab, die höher ist als der zulässige Grenzwert für Atomkraftwerksarbeiter in Deutschland.
Man entdeckt natürlich nicht jeden dieser Hotspots. Die japanischen Behörden haben Yusa dennoch erklärt, seine Fabrik sei sicher. Doch die Behörden behaupteten auch, Tokio sei sicher, bis man Anfang Oktober südlich der Hauptstadt ebenfalls einige Hotspots mit ungewöhnlich hohen Strahlenwerten entdeckte.
Aber Japan hat sich gewandelt in diesem Jahr, und Yusa hat den Behörden nicht ohne Weiteres geglaubt. Yusa ist 45 Jahre alt, seine drei Kinder gingen auch am 11. März in Tokio zur Schule, aber er ließ sie seitdem nicht wieder nach Hause kommen, kein einziges Wochenende. »Natürlich habe ich Angst«, sagt der Familienvater. Er wundert sich ein wenig über die Frage, er kennt schließlich nicht die in Europa verbreitete Legende von den disziplinierten, obrigkeitshörigen japanischen Robotern ohne Angst. Er wird umziehen mit seiner Brauerei. Drei Kilometer weiter, an einen Ort ohne Hotspots. Er wird keine staatliche Unterstützung dafür bekommen.
Nihonmatsu hatte vor dem Erdbeben im Frühjahr 60 000 Einwohner. Wer konnte, hat die Stadt inzwischen verlassen, und wer selbst nicht konnte, so wie Yusa, hat zumindest versucht, seine Kinder bei Verwandten unterzubekommen.
Am 11. März gingen 5000 Flaschen und ein großer Tank im Lager seiner Brauerei zu Bruch. Yusa brachte einige unversehrte Sake-Flaschen in ein Labor in Tokio zur Untersuchung: Laut Gutachten der Universität Tokio war die gemessene Strahlung der abgefüllten Sake-Flaschen unbedenklich.
Ende März hätte der neue Sake-Reis gesät werden müssen, aber da war schon lange klar, dass man in Nihonmatsu diesen Oktober keinen radioaktiv unbelasteten Sake-Reis würde ernten können. Yusa wird Ende November Reis aus dem Westen Japans für die Verarbeitung seines Sakes im Norden kaufen. Grüner Tee war auch schon im Westen in 400 Kilometer Entfernung verstrahlt, aber sollten auch nur geringe Rückstände von Radioaktivität zu finden sein, dürfte er auch Reis aus dem Ausland verwenden. Das erlauben die Regeln der japanischen Sake-Innung.
Reiswein ist kein Wein, Lage und Anbaugebiet sind für Sake viel weniger wichtiger als Technik und Qualität bei der Verarbeitung. Auch das Quellwasser in der Präfektur Fukushima kommt aus dem Boden und ist weitgehend unbelastet.
Yusa gibt Entwarnung für deutsche Bars: Auch der Sake des Jahrgangs 2011 bleibt sicher.
Fotos: Haruka Fujita