Es gibt Menschen, die Innovationen ablehnen, vor allem wenn sie ein Grundbedürfnis wie das Essen betreffen. Denn was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht. Ich hingegen gehöre nicht zu der Spezies, die auf der Rückseite einer Tiefkühlpizza die Inhaltsstoffe studiert. Mein Nahrungsspektrum reichte bisher von den italienischen Dosentomaten bis zum Biogemüse, an dem noch etwas Erde klebt. Trotzdem erschien auch mir die neueste Errungenschaft der Esskultur aus Amerika etwas bizarr: Sprays mit Geschmacksrichtungen wie Honig, Tomate-Basilikum oder Geröstete Zwiebeln, die ihr natürliches Pendant überflüssig machen sollen. Klar, die Aromaindustrie lebt davon, dass ein Joghurt kaum mehr eine Frucht braucht, um so intensiv nach Erdbeere zu schmecken, dass das Original dagegen fast wässrig wirkt. Aber kann man Kiwi, Butter oder Banana-Split-Eis einfach auf das Essen sprühen wie ein Parfum auf die Haut? Andererseits: Wir schreiben das Jahr 2006, also warum eigentlich nicht? Die neuen Flavorsprays, entwickelt und vermarktet von dem amerikanischen Starkoch David Burke, versprechen solche Wunder. Als »erstaunlichste Innovation des Jahres« beschreibt das Time Magazine diese Produkte, die »das Kochen beinahe überflüssig machen«. In Radiosendungen und TV-Shows erzählen Hausfrauen begeistert von ihren Experimenten, in denen sie Joghurt in Schokolade verwandeln und Speck auf Eier oder ein fades Steak sprayen: »Delicious!« Waren die Flavorsprays anfangs noch eher als Ersatzstoffe gedacht, um karge Diätkost etwas aufzupolieren, scheinen sie schon nach wenigen Monaten so unentbehrlich in der amerikanischen Küche wie Salz oder Pfeffer, obwohl niemand genau weiß, woraus die natürlichen und künstlichen Aromen in der Wasseremulsion bestehen. Denn David Burke hält seine Rezeptur streng geheim. Es gibt die Flavorsprays seit Kurzem auch in der Schweiz und in den Niederlanden. Vor der baldigen Markteinführung in Deutschland wage ich einen Selbstversuch. Drei Tage will ich mit den Sprühflaschen leben und essen, um der Frage nachzugehen, was eine aufgesprühte Tomate mit einer echten gemein hat. Und ob ein Hauch von Nichts unsere konventionelle Nahrungsaufnahme tatsächlich ersetzen könnte. Ich suche mir zehn der mehr als dreißig im Internet angebotenen Geschmacksrichtungen aus, zehn, die meinen Essgewohnheiten am ehesten entsprechen. Die Frage, die sich mir dabei stellt: Woran erkenne ich eigentlich Geschmack? In Fachbüchern lese ich, dass der Geschmack weitaus weniger ausgeprägt ist als andere Sinne und eher aus einem Zusammenspiel von Riechen, Sehen und der im Mund gefühlten Textur des Essens entsteht als durch die Rezeptoren auf der Zunge. Von denen hat der Mensch im Vergleich zur Kuh ohnehin nur wenige – und mit fortschreitendem Alter immer weniger. Aus dem Paket dringt ein unerklärlicher Duft, der an alte Schokolade erinnert. Die kleinen Plastikfläschchen, auf denen David Burke mich angrinst, sehen allerdings eher aus wie Gesichtswasser oder Medizin. An diesem Morgen, Tag eins meines Versuchs, entscheide ich mich für einen Toast mit Honig. Das heißt: für einen Toast mit Honigspray. Ich rieche an dem Fläschchen: eindeutig Honig. Ich bin mir sicher. Auch wenn mir die Worte für die Beschreibung von Honig fehlen würden: Dieser Toast, obwohl nun nur ein paar Wasserbläschen statt einer gelben, zähen Schicht auf ihm liegen, er schmeckt nach Honig. Aber vielleicht liegt es nur daran, dass ich weiß, wie er schmecken soll.
In der Mittagspause gehe ich in ein italienisches Restaurant und bestelle Nudeln und Tomatensauce, die Sauce, zum Vergleich, »bitte separat«. Der Kellner sieht mich verwirrt an, als ich das Spray auf den Tisch stelle, er hält mich vermutlich für eine irre Makrobiotikerin. Ich ignoriere seine Blicke und gebe beherzt drei kräftige Schuss Spray auf die blanken Nudeln. Die verwaiste Tomatensauce riecht wunderbar nach Tomate, mein Teller Flavor-Nudeln dagegen scharf wie Medizin. Sie haben nun einen Geschmack, der eher an Hustenbonbons erinnert als an Tomaten-Basilikum-Essenz. Zum Glück verflüchtigt sich der Duft bald, es bleibt ein indifferentes, künstliches Aroma, gegen das jedes Ketchup natürlich wirkt. Tomate, denke ich, Basilikum, und esse weiter, doch es stellt sich kein Saucen-Gefühl ein. Der Geschmack, der sich nun seltsamerweise mit der Erinnerung an etwas Honig vom Frühstück mischt, bleibt den Nachmittag lang und lässt sich nur mit einigen Kaugummis abmildern. Vorläufiges Fazit: Schwer vorstellbar, dass die Zukunft des Essens der Aromaindustrie gehören soll. Aber die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden, das ist auch wissenschaftlich belegt. Zwar erkennen die meisten Menschen auf ähnliche Weise süß und salzig, beim Bittergeschmack aber stellten Wissenschaftler Schwankungen um den Faktor tausend fest. Ich bin also froh, dass ich für den Abend Freunde eingeladen habe. Vielleicht wer-den meine Dinner-Gäste ja anders auf die Sprays reagieren als ich. Es soll mit Teriyaki-Geschmack besprühte Hühnchenspieße geben. Für mich riecht das Spray nach nassem Laub, hoffentlich schmeckt es nicht ebenso. Als Vorspeise serviere ich Blue-Cheese-Spray auf Kräckern. Meine Gäste reagieren verhalten. Die Stimmung ist so spröde wie das Essen. Was hilft die schönste Tischdekoration, wenn auf dem Teller nur ein Keks liegt? Vermutlich sind meine Gäste zu höflich, um mehr zu sagen als »Echter Käse schmeckt besser« oder »Ich bin kein Fan von Schimmelkäse«. Am Tisch hat sich das Aroma von alten Turnschuhen breitgemacht. Und die vom Spray aufgeweichten Kräcker schmecken auch so ähnlich. Dagegen hilft, so rate ich meinen Gästen, nur eine kräftige Dosis »Smoked Bacon«, die alles in ein salzig-geräuchertes Aroma taucht, das selbst einen herzhaften Parmaschinken übertönen würde. Das Teriyaki-Spray, das dem Huhn eine leicht zuckrige Komponente gibt, erweist sich glücklicherweise als eher flach und lässt noch etwas Fleischgeschmack erahnen. Auch wenn Menschen evolutionär begründet Süßes mögen, da der Geschmack Kalorien verspricht: Das Aroma-Huhn erregt keinerlei archaische Essensgelüste, meine Gäste wirken schon nach einigen Bissen sehr satt. Inzwischen riecht es im Esszimmer wie in einer Parfümerie. Süße, salzige und bittere Duftwolken schweben über dem Tisch. Vermutlich hat sich unser Geschmackssinn bereits verflüchtigt. Gut, dass der Nachtisch eindeutig beschriftet ist: »Birthday Cake«. Auf Butterkeks gesprüht. Sicherlich hat jeder Mensch eine andere Vorstellung von einem Geburtstagskuchen. Vielleicht könnten wir ohne das Sehen und Riechen viele Gerichte überhaupt nicht unterscheiden. Aber das Birthday-Cake-Spray ist bei aller Verwirrung der Sinne beeindruckend. Die Butterkekse verströmen ein unglaubliches Rum-Marzipan-Aroma, das für eine ganze Konditorei reichen würde. Und doch sind sie trocken wie Staub, es fehlen Creme, Sahne und Teigbrösel, die einen Kuchen zu einem Kuchen machen. Man kann Geschmack imitieren, das beweisen die Flavorsprays, aber können sie wirklich Nahrung ersetzen? Gibt es wahren Fettgeschmack ohne Kruste? Sahne ohne Schaum? Kann sich Schokoladengeschmack auf Käse entfalten und ein Knäckebrot zum Steak werden? Vielleicht müsste man einfach vergessen, wie ein Steak aussieht. Man müsste vergessen, dass Obst weich und ein Braten warm ist. Meine Küche ist jetzt ein Versuchslabor, der elektrische Herd scheint so überflüssig wie eine offene Feuerstelle. Auf meinem Einkaufszettel stehen am dritten und letz-ten Tag nur noch: Reis, Toast, Kräcker. Ich nenne sie inzwischen Trägermaterial. Ich ernähre mich von »Smoked Bacon«, »Memphis BBQ« und »Chocolate Fudge«. Würde ich noch einige Monate länger nur mit David Burkes Aromen leben, ich würde ver-gessen, wie ein Banana-Split-Eis wirklich schmeckt, obwohl die Erinnerung daran aus meiner frühesten Kindheit stammt. Vielleicht würde ich sogar ein Grillhuhn irgendwann als unnatürlich empfinden. Und das unsichtbare »Memphis BBQ« auf Toast gesprüht – es wäre für mich so wertvoll wie ein kleines Steak.