Ziehe ich in eine neue Stadt, fühle ich mich erst dann zu Hause, wenn ich Restaurants kennengelernt habe, die mir genau dieses Gefühl geben. Kurz nach meiner Ankunft in München hatte ich das: ein indisches Restaurant, wenige Minuten von meiner Wohnung entfernt. Die Kellner servierten Currys, die so samtig schmeckten, dass sie jeden blöden Gedanken nach einem zu langen Tag wegschmelzen konnten. Wenn ich die buttrige Sauce mit Reis in meinen Mund schob, fühlte ich mich, als hätte jemand eine sehr warme Decke über mir ausgebreitet und um meinen Körper herum festgesteckt. Wie um alles in der Welt schafften es die Köchinnen oder Köche, dass das Essen dort so anders schmeckte als in den anderen indischen Restaurants?
Eines Tages fand ich wohl die Geheimzutat. Als ich von einem mitgenommenen Gericht Sauce aus dem Karton schöpfen wollte, blieb am Löffel ein Stückchen kleben, das mich sehr an Hühnerhaut erinnerte. Statt wie unter einer warmen Decke fühlte ich mich schockgefrostet. War das der Grund, warum die Sauce für mich anders schmeckte? Und schlimmerweise auch so köstlich? Hatte wegen all der anderen Gewürze mein Geschmackssinn versagt? Oder war dem Koch vielleicht nur ein einziges Mal Hühnerhaut in mein vegetarisches Curry gefallen, weil er mit demselben Kochlöffel in verschiedenen Töpfen gerührt hatte? War es überhaupt Hühnchen?
Es war nicht zu klären, weil ich fortan keinen Löffel des Currys mehr essen konnte und auch das Restaurant nicht mehr betrat. Der Vorfall nährte eine Sorge, die ich mit mir herumtrage, seit ich im Alter von elf Jahren beschloss, vegetarisch zu essen: dass doch Fleisch in meinem Essen sein könnte. Oder zumindest Fleischprodukte wie Brühe. Ich bin in einer Zeit Vegetarierin geworden, als viele Leute das nicht so genau nahmen. Es gab in meinem Umfeld weniger Vegetarier, geschweige denn Veganer, und in Sendungen wie Das perfekte Dinner erzählten Menschen in meiner Erinnerung regelmäßig, dass sie Vegetarier seien, aber durchaus Fisch äßen.
Wenn ich mir unsicher bin, ob mein Essen nicht doch mit Fisch oder Fleisch zubereitet wurde, stelle ich mir die dazugehörigen Tiere vor. Sie machen mir dann Vorwürfe. Ich mir erst recht. Solange ich für mich koche, kann ich das leicht vermeiden. Im Supermarkt ist es einfach zu erkennen, ob ein Lebensmittel vegetarisch ist. Veganer haben es schwerer, weil sie auf noch mehr Inhaltsstoffe achten müssen. Um sicherzustellen, dass ein Produkt zum Beispiel nicht mit Honig gesüßt wurde, müssen sie die oft in winziger Schrift gedruckten Zutatenlisten noch genauer lesen. Auf Facebook gibt es viele Gruppen, in denen sich Veganer gegenseitig tierfreie Produkte empfehlen. In der öffentlichen Gruppe »Vegane Kauftipps« folgen mehr als 20 000 Menschen den manchmal schnörkellosen, manchmal emotionalen Beiträgen anderer Nutzer über vegane Chips, Gemüse-Bulgur-Snacks und vegane Süßigkeiten. So informiert ein Nutzer die Gruppe, dass es bei Aldi-Süd gerade zwei vegane Muffins für 1,29 Euro gebe. »Ein Fest für die Sinne«, schreibt er.
Gleichzeitig sind diese Foren gute Orte, um über das Unwohlsein zu sprechen, das viele Veganer und Vegetarier begleitet. Die englische Zeitung Guardian berichtete von einer britischen Facebook-Gruppe, in der sich Nutzer über vegane Burger oder vegane Würstchen im Teigmantel austauschen und die Furcht beschreiben, dass in dem Produkt doch Fleisch enthalten sein könnte. Eine Nutzerin wird zitiert, sie werde immer ängstlich, wenn falsches Fleisch echt schmecke, »dass eines Tages herauskommen könnte, dass wir die ganze Zeit hereingelegt wurden und doch echtes Fleisch gegessen haben«.
Wie ich mit meiner eigenen Fleisch-Angst nun umgehen soll? Ich weiß es auch noch nicht. Klar, ich suche mir ein anderes indisches Restaurant. Aber es gibt ja auch schwierigere Situationen. Zum Beispiel als ich mich an einem Abend mit Kollegen in einem japanischen Lokal bei jedem Löffel fragte, ob die Ramensuppe wirklich vegetarisch war, wo sie doch so fischig schmeckte (in meinem Kopf schwammen sehr niedlich aussehende Fische). Oder als eine Bekannte für mich eine vegetarische Lasagne zubereitete, die so sehr nach Huhn schmeckte, dass ich mich fragte, ob da nicht doch etwas Hühnerbrühe in die Sauce geraten war (in meinem Kopf pickten Hühner auf einer Wiese, und dass diese Vorstellung weit entfernt von der Realität ist, macht es noch schlimmer).
Da stecke ich in einer Zwickmühle. Selbst wenn ich das Gefühl nicht loswerde, Fleisch untergejubelt bekommen zu haben, will ich den Abend nicht verderben, indem ich misstrauisch beim Kellner oder beim Gastgeber nachfrage. In so einem Fall hilft wohl nur, ein paar Anstandsbissen von dem Gericht zu nehmen. Den Tieren im Kopf zu sagen, dass ich ja wirklich mein Bestes gebe. Und mich dann dem Nachtisch zu widmen. Aber lieber keine Crème: Die wird oft mit Gelatine angerührt.