Unser täglich Rot

40 Millionen Dosen im Jahr – warum ist das hier immer noch das erfolgreichste Fertigprodukt Deutschlands?

Ein Artikel über Dosenravioli? Ach, herrje, damit hat bei Maggi in Frankfurt keiner mehr gerechnet. Der geeignete Ansprechpartner sei verreist, leider, und nein, niemand anders könne etwas dazu sagen. Zu jedem anderen Maggi-Produkt würde man gern sofort und umfassend Informationen liefern, aber Ravioli, ausgerechnet? Ob man nicht lieber über das Jubiläum »120 Jahre Maggi Würze« schreiben wolle?

Anfragen zu Ravioli aus der Dose gibt es wohl nicht oft. Wieso eigentlich? Immerhin geht es hier um den Deutschen Meister. »Ravioli in pikanter Soße« von Maggi sind inoffiziell das erfolgreichste Supermarkt-Fertiggericht des Landes: 40 bis 45 Millionen Dosen werden pro Jahr verkauft, und das seit Jahrzehnten. 19 Millionen Stück waren es im ersten Halbjahr 2007. Die Sorten »Ravioli Diavoli«, »Gemüse Ravioli«, »Raviolini« und »Ravioli in Tomatensauce« und andere Hersteller nicht mitgerechnet. So oft verkaufen sich weder Maggis erfolgreichste »Meisterklasse«-Tütensuppe noch die beliebteste »5 Minuten Terrine«. Auch die Konkurrenz muss passen – die erfolgreichste Tiefkühlpizza (Dr. Oetker, »Ristorante Pizza Salame«) wird 20 Millionen Mal verkauft, »Bami Goreng« von Frosta aus dem Gefrierfach schafft gerade so die Zwei-Millionen-Marke. Weder Suppen von Erasco oder Sonnen Bassermann noch ein Eintopf von Knorr, nicht einmal Mirácoli-Spaghetti werden in vergleichbaren Mengen verkauft.

Gut, Iglo produziert eine halbe Milliarde Fischstäbchen pro Jahr oder, wie es im Werk in Bremerhaven gut gelaunt heißt, »jeden Tag so viele, dass wir von hier bis zu euch nach München eine Fischstäbchen-Kette legen könnten«. Aber panierter Fisch ist kein komplettes Gericht. Die Dosenravioli hingegen sind eine vollständige Mahlzeit. Der Fachmann sagt etwas unappetitlich: ein Nassfertiggericht.

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(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wieso Ravioli "Quietsch, quietsch, platsch" genannt werden und was Harald Schmidt über Dosenravioli spottete)

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Da kennt der Supermarktangestellte im nächstgelegenen Tengelmann einen deutlich besseren Namen und sagt fröhlich: »Ravioli? Die haben wir früher immer nur ›Quietsch, quietsch, platsch‹ genannt.« Quietsch, quietsch macht der Dosenöffner, und mit etwas Schütteln rutscht der gesamte Inhalt mit einem großen Platscher in den Kochtopf. »Es heißt weiterhin ›Maggi‹ und nicht ›Matschi‹ «, hat Harald Schmidt einmal gespöttelt. Stimmt sogar: Die Teigtaschen bewahren beim Kochen ihre Halbmond-Form, die gezackten Teigränder halten dicht. Um sie herum treiben einige kleine Hackfleischklümpchen in der blubbernden roten Soße.

Dosenravioli schmecken besser, als sie aussehen, immerhin. Dass sie auf der Webseite der Firma als »italienische Pastaspezialität« geführt werden, kann aber nur ein versteckter Scherz der Marketingabteilung sein. Bei der Verbraucherzentrale Bayern spricht man vom »Überlebensmittel Ravioli«, bei dem es »schwerfällt, zur
Lobeshymne anzusetzen«, aber so sei das eben bei Fertiggerichten. Martin Hofmeister rät zu frischem Salat als Beilage oder gutem Parmesankäse zum Darübereiben für den Kalziumgehalt. Und meint trotz mehrfachen Ravioli-Konsums zur Studienzeit: »Dreimal die Woche sollte man die sicher nicht essen.«

Fünfjährige ausgenommen, findet man wenig echte Fans der Dosenravioli. Ex-Kanzler Schröder schwärmt für Currywurst, Angela Merkel für Grünkohl (ihr Rezept: Seite 66), Adenauers Lieblingsessen war der Pichelsteiner Eintopf. Die Dosenravioli haben keine bekannten Fürsprecher, nicht mal Franz Beckenbauer hat dafür geworben. Große TV-Kampagnen und die prominenten Verkaufsplätze im Supermarkt sind bei Maggi für neue Produkte reserviert, die Ravioli stehen einfach nur im Regal.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wieso Ravioli eigentlich ein Ladenhüter sein müssten und warum Tschernobyl gut fürs Geschäft war)

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Wenn man der Marktforschung glaubt, müssten Ravioli ein Ladenhüter sein: »Der Trend geht weg von der Dose, von Erbseneintopf oder Hühnersuppe. Gerade jüngere Kunden sagen, sie möchten keine Dosen mehr, das Essen sieht in Dampfgarschalen schöner aus«, sagt Nicole Dinter, Unternehmenssprecherin des Lebensmitteldiscounters Plus, »immer beliebter sind dagegen exotische Gerichte, Thai-Curry etwa, und gesunde, schonend zubereitete Fertiggerichte.«

Da können Ravioli nicht mithalten. Als sie 1958 auf den Markt kamen, waren Kalorien noch eine gute Sache und Dosenpasta die einfachste Form der Brennerüberquerung. Das Rezept hat sich seitdem kaum verändert, statt Eiernudeln nimmt man Hartweizengries-Ravioli, die Tomatensoße ist aber im Prinzip die gleiche wie 1958. Und doch passten Dosenravioli in jede Zeit: zu den Zelturlauben der Siebzigerjahre (noch einmal Harald Schmidt: »Fällt Ravioli schon unter Camping-Zubehör?«) ebenso gut wie zu kochunfähigen Single-Männern der Neunziger. Nach Tschernobyl waren die lange haltbaren Dosen als Krisen-Vorrat besonders beliebt und 2003 stellte die Bundesforschungsanstalt für Ernährung eine »erstaunliche Ravioli Renaissance« fest.

Für die gibt es mehrere Erklärungen. Die sozialkritische: Ravioli kosten um 99 Cent, die Dose reicht für Alleinerziehende mit Kind. Die sozialromantische: Maggis Ravioli, die 2008 ihren 50. Geburtstag feiern, sind das erste Fertiggericht mit Nostalgiefaktor. Die wissenschaftlich fundierte: Den Deutschen fehlt die Zeit zum Kochen, da sind sich alle Ernährungsstudien einig, Essen soll wenig kosten und schnell gehen. Quietsch, quietsch, platsch.

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