An der Bar wird allerlei Blödsinn erzählt. Aber es war noch früh am Abend, und der Wirt machte den Eindruck, er wisse, wovon er redet. Klaus Pobitzer ist ausgebildeter Sommelier, in Südtirol, wo es angeblich eine der schwierigsten Abschlussprüfungen in ganz Europa gibt. Den Wein, über den er sprach, will er schon seit dreißig Jahren kennen, fast so lange, wie es den Gasthof seiner Eltern gibt, den »Garberhof« im Vinschgau, den er vor zehn Jahren übernahm. Der Wein heißt Floreado, ein Sauvignon blanc aus der Kellerei Andrian nahe Meran, mit 13 Volumenprozent Alkohol. Pobitzer also sagt mit Blick auf die Flasche zwischen uns: »Der Wein wird immer stärker.« Zweitens: »Durch den Klimawandel.« Und drittens: »Die Winzer sträuben sich, einen höheren Alkoholgehalt auf dem Etikett anzugeben.«
Wie bitte? Rückfrage bei einem befreundeten Weingroßhändler, Eberhard Spangenberg von Garibaldi, und dem Gründer der Südtiroler Vinum-Hotels, Hansjörg Ganthaler. Beide sagen: Stimmt – und stimmt nicht. Also: Viele Weine seien in den vergangenen Jahren stärker geworden, ja. Aber nein, nicht nur wegen des Klimawandels. Auch eine immer bessere Technik in Weinbau und Keller sowie bessere Fachkenntnisse spielten eine Rolle. Sie erklären: Man weiß mehr darüber, welche Reben sich für welche Böden eignen, zudem beschneidet man die Reben viel kürzer. Das mindert den Ertrag, aber in die verbliebenen Trauben gelangen so auch mehr Geschmacksstoffe, das sorgt für mehr Zucker – und später im Wein für mehr Alkohol. Nicht nur in Südtirol, dessen Weißweine vor fünfzig Jahren noch als Essig galten.
Und drittens ein Jein: Es stimme schon, sagen Spangenberg und Ganthaler, dass Winzer gern darauf verzichten würden, bei einem Wein einen höheren Alkoholwert aufs Etikett zu schreiben als im Vorjahr. 12 bis 12,5 % vol Alkohol würden bei einem Weißwein als süffig empfunden. Mehr Alkohol, so laute die gängige Meinung, schade dem Geschmack, lasse den Wein flach und stumpf erscheinen und sei gegen den Trend. Aber der Spielraum für die Winzer sei eng, zum Schummeln bleibe kaum Platz. Der Zuckergehalt der Trauben wird vor der Ernte täglich im Labor geprüft, auch der Alkoholgrad des vergorenen Weins bei der Abfüllung. Nur minimale Abweichungen auf einem Etikett werden toleriert. Bei bis zu 13,4 Volumenprozent im Wein etwa darf ein Winzer gerade noch 13 aufs Etikett schreiben.
Tatsächlich sind viele Weiß- und Rotweine nun stärker als vor zehn, fünfzehn Jahren. Bordeaux-Weine haben heute bis zu 1,5 Volumenprozent mehr Alkohol und erreichen 14 % vol. Ein Nebbiolo aus dem Piemont, der früher bei 12 lag, kommt nun oft auf 13,5 % vol. Vernatsch, die autochthone Südtiroler Rebsorte, auf bis zu 14 % vol statt früher auf maximal 12. Auch Weißweine sind viel kräftiger geworden: Ein Chardonnay erreicht manchmal sogar 14,5 % vol, so viel wie früher nur schwere Rotweine.
Klaus Pobitzer ist davon überzeugt, dass sich das bemerkbar macht: »Bei meinem Sauvignon blanc schmecke ich den Unterschied zwischen 13,0 und 13,4 % vol.« Spangenberg ist da skeptisch, er erinnert sich daran, wie er mal einen Wein mit 14 Volumenprozent Alkohol auf 12 geschätzt hat. »Der war allerdings gut ausgebaut. Das heißt: Der Alkohol muss geschmacklich integriert werden. Wenn das gelingt, kann der alkoholreichste Wein bei einer Blindverkostung sogar wie ein leichter schmecken.« Verlässlicher für eine erste Einschätzung sei der ölig schimmernde Glycerinfilm an der Glasinnenseite: Fällt er vergleichsweise viskos aus, spricht das für einen hohen Alkoholgehalt des Weins.
Und warum wollen Kellereien die Alkoholangabe auf den Etiketten niedrig halten? Pobitzer, der Sommelier, sagt: Weil mehr Alkohol bei Weißweinen tendenziell die Gefahr von weniger Säure und daher einem flacheren Geschmack birgt, und weil Rotweine dadurch Geschmacksnuancen verlieren. Ganthaler, der Hotelier, sagt: Weil Weine mit weniger Alkohol als süffiger gelten. Spangenberg, der Weinhändler, sagt: Weil ein niedriger Alkoholgehalt im heutigen Fitnesswahn als Marketingvorteil betrachtet wird.
Die Winzer ernten nun, wenn ein Sommer besonders heiß ist, früher als vor einigen Jahren – nämlich, sobald die Trauben den Zuckergehalt eines sonnenärmeren Jahres haben. So erreichen sie, dass später auch der Alkoholgehalt im Most nicht höher ausfällt. Allerdings ist eine frühere Ernte auch problematisch: Die Geschmacksstoffe in der Schale sind oft noch nicht richtig ausgereift.
Die heißen Sommer der vergangenen Jahre ermöglichen auch den Anbau von bestimmten Traubensorten in Regionen, die dafür bislang ungeeignet erschienen. So etwa Cabernet Sauvignon und Syrah in Deutschland, Rotweintrauben, die Mitte des 20. Jahrhunderts hier nirgendwo wuchsen. Sogar auf Sylt und um Berlin wird mittlerweile Wein angebaut.
In Südtirol weichen einige Winzer auf höhere Lagen aus. Ein guter Weißwein braucht heiße Tage und kühle Nächte. Die Hitze sorgt für den Zucker, die Kälte für die Säure. Man erntet gern am frühen Morgen, wenn die Temperaturen am niedrigsten sind, um möglichst viel Säure in den Trauben zu bewahren. Doch kühl sind die Nächte oft nur noch weiter oben am Berg. Galten früher Lagen auf 200 Metern Höhe als ideal, findet man inzwischen viele Weißweinreben auf 600 Metern. Südlich von Bozen wird sogar ein Rotwein, Blauburgunder, auf fast 1200 Metern angebaut – Alpen-Rekord!
Welchen Einfluss der Klimawandel hat, wenn es um den gestiegenen Alkoholgehalt im Wein geht, oder welchen Einfluss die Anbaumethoden da haben – jede Menge Weinkenner werden sich dazu noch äußern. Und auch dazu, ob es überhaupt eine schlechte Sache ist. Eberhard Spangenberg sieht es positiv: »Alkohol konserviert die Weine gut, macht sie am Gaumen rund und füllig und verleiht ihnen auch oft eine gewisse Süße, die nicht vom Zucker stammt.« Der Kopf, meint er, sage etwas anderes, aber in Blindproben lägen dann doch oft die Weine mit dem höchsten Alkoholgrad vorne.
Die Weine sind besser als früher – obwohl oder weil sie stärker geworden sind.