Manchmal erschrecke ich, wenn ich am Kühlschrank stehe. Eigentlich wollte ich mir nur ein Glas Pinot Grigio zum »Donna Leon«-Film einschenken. Dann habe ich noch mal etwas nachgenommen, weil so ein Glas keine 90 Minuten hält. Aber wie kann es sein, dass die Weinflasche, die ich gerade erst geöffnet habe, schon wieder halb leer ist?
Da ich alleine wohne, kann ich sicher sein, dass niemand heimlich bei meinen Wein mittrinkt. Also muss ich eine unangenehme Schlussfolgerung ziehen: Ich habe eine komische Beziehung zum Alkohol entwickelt.
In meiner Familie gehörte es immer zum guten Ton, abends ein Glas Wein zu trinken und sich mit den Rebsorten auszukennen. Es gab in meiner Generation eine »Toskana-Welle«. In den Schulferien packten die Familien ihre Autos bis unter das Dach voll und reihten sich in den Stau auf der Autobahn in Richtung Süden ein. Und genauso wurde es zum Trend, den mediterranen Lebensstil, das süße Leben, zu Hause etwas abzukupfern. Ich ließ die Butter im Kühlschrank, briet unser Gemüse in Olivenöl an und achtete darauf, dass wir immer guten Käse und Wein vorrätig hatten.
Früher lebten mein inzwischen verstorbener Mann und ich in einem Haus auf dem Land. Wir hatten einen Garten mit einem Kirschbaum, durch dessen Zweige abends die Sonne auf die Terrasse schien. Mein Mann und ich sahen uns tagsüber nicht viel, umso wichtiger war uns das gemeinsame Glas Wein am Abend. Und zwar kein klebrig-süßer Rosé, sondern die trockenen italienischen Rebsorten. Wir hatten die Flaschen im Urlaub auf den Weingütern gekauft und großzügig in unseren Ferienwohnungen verkostet. Den Wein auf der heimischen Terrasse zu entkorken, fühlte sich an wie ein Moment absoluter Ruhe im Alltag. Aber es blieb bei einem Glas. Wir mussten am nächsten Tag ja früh raus.
Mir hat der Wein damals genauso gut geschmeckt wie heute. Mein Problem mit den halbleeren Flaschen muss also mit dem Alleinsein zusammenhängen. Damit, dass man über sein eigenes Verhalten nicht mehr richtig nachdenkt. Mir fällt auch in anderen Situationen auf, dass ich nicht merke, was ich eigentlich genau mache. Wenn ich die Reste aus einem Marmeladenglas mit einem Löffel naschen möchte, dabei ein gutes Buch lese und mir irgendwann auffällt, dass ich nur noch über Glas schabe. Früher wäre eines meiner Kinder durchs Wohnzimmer gelaufen und hätte »Wie du immer in den Büchern versinkst« gerufen und gelacht. Und auch beim Wein kann ich mir gedankenverloren nachschenken, weil niemand da ist, der mich anlächelt und fragt: »Noch eins?« Der mich sanft korrigiert und mir zeigt, wie ich mich eigentlich verhalte.
Aber die fehlende Rückmeldung ist es nicht allein. Wenn ich im Supermarkt an der Kasse stehe, sehe ich immer wieder Frauen und Männer in meinem Alter, die sich diese günstigen kleinen Schnapsflaschen aufs Warenband legen, verschämt unter einer Packung Toast, einer Milchtüte und einer Packung Scheibensalami. Einsamkeit fühlt sich sehr kalt an. Und Alkohol wärmt für einen kurzen Moment. Das macht ihn für alte Menschen so gefährlich.
Ich bin froh, dass ich nicht aus diesem Grund trinke, sondern immer noch aus reinem Genuss. Denn so fällt es mir etwas leichter, an meinem Verhalten zu arbeiten. Ich habe einen Trick für mich gefunden: Ich nehme nicht mehr meine wunderschön bauchigen Weißweingläser, in die man beim Einschenken eine Viertel Flasche Wein kippt, sondern meine zarten Kristallgläser. Die sind schnell leer getrunken. Selbst mir fällt dann auf, wenn ich zu oft zum Kühlschrank laufe und nachschenke.
Und seit dem Tod meines Mannes verzichte ich immer wieder einige Wochen lang ganz auf Alkohol. Ich möchte wissen, dass ich es noch kann. Und es geht. Das ist das Entscheidende. Nur mit diesem Wissen kann ich den Weißwein auch genießen.