Der Wecker klingelt um 5:10 Uhr. Zwei Tassen starker Kaffee mit Zucker, dann brechen sie auf. 40 Kilometer in nördlicher Richtung, raus aus der Oberpfalz, rüber nach Mittelfranken. Im Radio läuft Bayern 1, aus der Autoheizung bläst ihnen staubige Wärme ins Gesicht. Als sie am Waldrand ankommen, ist es noch dunkel. Jetzt noch ein paar Minuten zu Fuß, dann sind sie am Ufer. Der Kleine, Drahtige mit den Gummistiefeln packt die Ruten und die Eimer, der Lange mit den Turnschuhen den Korb mit der Brotzeit. Unter ihren Füßen raschelt Laub. Es geht vorbei an mächtigen Ahornbäumen, nach 20 Minuten zeigt sich ein silbriger Streifen über der Hersbrucker Alb. Es dämmert. Zeit anzufüttern.
Die Männer sind zu zweit. Der Große ist 42, der Kleine 54. Der eine hat als Kind auf Perserteppichen gespielt, der andere sah zu, wie sein Elternhaus in Hà Tinh von einem amerikanischen B-52-Bomber in die Luft gejagt wurde. Der eine hat Abitur gemacht und studiert, er leidet unter Magenschmerzen und Geheimratsecken, die größer werden. Der andere floh nach Hanoi, wurde Soldat, kämpfte im kambodschanischen Dschungel gegen die Roten Khmer und den Hunger. »Wir haben alles gegessen«, sagt er. Was, sagt er nicht. Wenn ihm langweilig war, hat er auf Libellen geschossen, mal mit der Pistole, mal mit der Kalaschnikow. »Ich habe immer getroffen«, sagt er. »Scharfschützenausbildung.« Er überlebte den Krieg, kam nach Saigon und verliebte sich so heftig in eine Frau aus dem Süden, dass er seine Kawasaki gegen einen vergoldeten Ring tauschte, damit er um ihre Hand anhalten konnte. Sie sagte Ja, wurde schwanger, brachte eine Tochter zur Welt, die heute 29 Jahre alt ist. Es ist die Frau, die ich liebe.
Unser Plan war, zwei Tage miteinander zu verbringen. Ein Ausflug, ein bisschen angeln, plaudern und zusammen schweigen; nur wir beide, ohne die Frauen. Wir kennen uns seit sieben Jahren, und doch gibt es so vieles, was wir nicht voneinander wissen. Als ich ihn frage, warum er ein Rad zum Angeln mitgenommen hat – er hat es mit Riemen an die Anhängerkupplung geschnallt –, sagt er: »Wenn dir langweilig wird, kannst du durch die Gegend fahren.« So gut immerhin kennt er mich.
Es ist nicht leicht, wenn einer im Krieg gekämpft hat. Manchmal kommt er mir vor wie ein Rätsel ohne Auflösung; er spricht nicht viel, und manches, was er sagt, verstehe ich nur zur Hälfte, weil er bei so vielen Wörtern die Endungen weglässt. Er bricht sie einfach ab. Vielleicht liegt es daran, dass die meisten vietnamesischen Wörter aus drei, höchstens vier Buchstaben bestehen. Er heißt Quoc, aber die Männer, mit denen er in der Fabrik arbeitet, sagen nur Gurke zu ihm, das klingt ähnlich und lässt sich leichter aussprechen. Neulich bin ich mit dem Kopf gegen eine Türleiste gerannt, am nächsten Tag hatte er die Stelle mit einem Stück Schaumstoff verklebt. Man weiß ja nie, wird er sich gedacht haben, er ist so groß, so ungelenk.
Im Happurger Stausee gibt es Karpfen, Hechte, Rotaugen und Brachsen. Wir werfen Mais ins Wasser, das soll sie locken, unsere Köder sind Regenwürmer, Maden und Boilies, murmelartige Bällchen aus tierischen Mehlen; unsere schmecken nach Leber. Zwei Stunden später – es ist hell und warm geworden – habe ich mindestens ein Dutzend Fische gesehen. Alle paar Minuten springt einer aus dem Wasser, dreht sich um die eigene Achse und taucht wieder ein. Es geht ganz schnell und sieht wunderschön aus, wenn die Schuppen für einen Moment in der Sonne glänzen, nur angebissen hat noch keiner. Ab und zu holen wir die Haken ein, erneuern die Köder, werfen sie an anderer Stelle wieder aus. »Ist Angeln ein Sport für dich?«, frage ich. »Nein«, sagt er, »Angeln ist Hobby und Essen.« Er hat zwölf Euro für den Tagespass bezahlt. Er wäre nicht einfach nur enttäuscht, wenn er ohne Fisch nach Hause käme, es wäre ein Verlustgeschäft.
Er ist ein Jäger, ein Sammler, zäh und ausdauernd, im Eis würde er genauso überleben wie in der Wüste oder im Dschungel. Ich spüre es, wie er den Haken durch die Maden bohrt, gekonnt, präzise, ohne Sentimentalität. Leben, jagen, essen, schlafen – auch nach 20 Jahren im Herzen Europas sind seine Instinkte lebendig. Er ist ein Mensch, der immer mit seinen Händen und seinem Körper gearbeitet hat. Ich kann eine Glühbirne wechseln, er kann jedes Auto, jede Heizung, jede Leitung reparieren; was er am Straßenrand findet, nimmt er mit, jeden Ziegelstein, jedes Rohr, jedes Brett, er kann alles brauchen, verbauen, umrüsten, sogar die Vorhänge im Haus, das mal eine Ruine war und das er jahrelang vollkommen allein wiederaufgebaut hat, hat er selbst genäht.
11 Uhr. Unsere Ruten stehen still, kein Zucken, kein Zappeln, aber Quoc lässt sich nicht entmutigen. »Wir haben noch acht Stunden, bis es dunkel wird«, sagt er. Es sei schwierig, er kenne das Gewässer nicht, wechselt die Köder, prüft die elektronische Bissanzeige, ich gehe zum dritten Mal aufs Klo und mache zum zweiten Mal Pause: Roggenbrot mit Bierschinken, ein Apfel, Erdnüsse, Pfefferminztee. 30 Minuten später beginnt es zu nieseln. »Nicht gut«, sagt Quoc. »Fische sind wie Menschen. Sie verstecken sich, wenn es regnet.«
Voriges Jahr hat er monatelang für die Angelscheinprüfung gelernt. Er, den ich nie zuvor mit einem Buch, sondern immer nur mit einem Spaten oder einer Bohrmaschine in der Hand gesehen hatte, saß am Wochenende am Tisch neben den steinernen Buddhafiguren und kämpfte sich durch Paragrafen. »In Vietnam«, sagt er, »haben wir mit lebenden Küken als Köder geangelt«, und manchmal, wenn es schnell gehen musste, weil der Hunger groß war, habe halt einer eine Handgranate ins Wasser geworfen, man musste die toten Fische dann nur noch aufsammeln.« Und jetzt? Gewässerkunde, Gerätekunde, Rechtskunde, Fischkunde. Ich beobachtete, wie er mit Hilfe des Google Translator versuchte, Wörter wie »Biosphärenreservate« und »Frühjahrsvollzirkulation« ins Vietnamesische zu übersetzen. Bestanden hat er trotzdem, ohne Fehler, er war einer der Besten im Kurs.
Ich muss mal wieder über etwas nachgedacht haben, als es zwischen 13 und 14 Uhr an der Leine zieht. Ich verpasse den Moment, erschrecke, als Quoc meinen Namen ruft, sehe nur noch, wie er aufgeregt, aber konzentriert die Leine einholt, an deren Ende tatsächlich ein Fisch zappelt. »Ein Rotauge«, sagt er, »nicht groß, aber immerhin.« Er löst den Haken und wiegt den Fisch in seinen schwieligen Händen. »600 Gramm, vielleicht 700.« Ich spüre, dass er sich freut und gleichzeitig enttäuscht ist: Ja, ein Fisch, aber kein großer und kein Karpfen. Als ich ihm vorschlage, dass wir ihn, weil er doch so klein sei, ins Wasser zurückwerfen und ihm das Leben schenken könnten, sieht er mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Ich sehe, wie es in ihm arbeitet, wie er versucht, mich zu verstehen, aber dieser Fisch ist sein Abendessen, nie im Leben würde er ihn ins Wasser werfen. »Tobi«, sagt er, »Rotauge schmeckt wirklich gut, glaub mir«, dann erschlägt er ihn mit einem Stock, schneidet ihn auf, reißt die Eingeweide aus dem Körper und wirft sie zusammen mit dem Kopf ins Gebüsch. Natur, denke ich so bei mir; ein Fuchs, vielleicht der Hund eines Anglers wird das Zeug schon fressen. Ein Kreislauf, es wird schon gut, es wird schon richtig sein.
Zwei Stunden später fahren wir nach Hause. Nach sieben Stunden sieht es nicht so aus, als würde noch einer beißen. »Warum bist du nach Deutschland gegangen?«, frage ich ihn. Und er erzählt, wie er drei Monate nach der Geburt seiner Tochter als Gastarbeiter in die DDR gekommen sei. »Hast du sie nicht vermisst?« Doch, sagt er, aber er habe von einer besseren Zukunft für seine Kinder geträumt. Zusammen mit fünf anderen Vietnamesen habe er in einem Zimmer in einem Wohnheim gehaust. Tagsüber habe er im Fleischkombinat Leipzig Rinderhälften zerteilt, abends Karten gespielt, dann sei die Mauer gefallen.
»Ein hartes Leben«, das sagt er immer wieder, aber sieben Jahre nachdem er sie verlassen hatte, kamen seine Frau und seine Tochter nach Deutschland. Ab hier kenne ich ihre Version: »Ich dachte, wir machen einen Ausflug, auf einmal stand ich auf diesem Flughafen, es war kalt, es war so kalt, und ein Mann kam auf mich zu und sagte, er sei mein Vater.«
Zu Hause gibt es Pho Bo, gebratene Nudeln mit Kohl und Mangospalten, im Hintergrund laufen vietnamesische Schlager. Ich bin so müde und muss auf dem Sofa eingeschlafen sein. Geweckt werde ich von einem Surren. Eine SMS. Es ist 18 Uhr. Ich öffne sie. Ein Foto von einem stattlichen Karpfen, der im Gras liegt. Dazu der Text: »Ich bin noch mal los. Jetzt habe ich den Karpfen. Gruß, Quoc.«
SCHLAFEN: Hotel »Schwarzer Adler«, Doppelzimmer ab 80 Euro pro Nacht, mit besonderem Service für Rad- und Wandergäste
ESSEN:Traditionell fränkische Küche wie Schäufele oder frischer Karpfen: Landhotel »Grüner Baum«
ANSONSTEN: Im Deutschen Hirtenmuseum erfährt man Erstaunliches über einen der ältesten und vielseitigsten Berufe der Welt.
Fotos: Daniel Delang