(Oben im Bild: Schnee)
Über Schnee wird nur im Modus der Sehnsucht oder der Panik gesprochen. Es gibt ihn als Zuwenig oder als Zuviel. Vor ein paar Wochen kursierte noch überall die Klage, dass es mit der »weißen Weihnacht« wieder nichts werden würde. Das Bild von tief verschneiten Landschaften, von dicken Schneekissen auf Bäumen und Dächern erschien wie eine endgültig aussterbende Zutat der guten alten Zeit, Schneetreiben als die meteorologische Entsprechung zu Großmüttern in geblümten Kitteln, die Weihnachtsstollen backen. Doch wenige Tage Winterwetter reichten aus, damit die Rede sofort ins Gegenteil kippte. Schlagworte wie »Streusalzknappheit« und »Hamsterkäufe« bestimmten die Debatte; der Katastrophenzustand wurde ausgerufen.
Zwischen Beschwörung und Bedrohung scheint es kein Mittelmaß zu geben. Als bloße Naturtatsache, auf die man sich einstellt, ist Schnee nicht mehr vorgesehen. Zu mächtig ist mittlerweile ein Konglomerat aus Sehnsuchtsbildern und -praktiken geworden, das man vielleicht als »Kultur des Schnees« bezeichnen kann und das die Nachbildung unwirklich schöner Winterlandschaften in den Werbespots genauso umfasst wie die Verwendung von Schneekanonen in den Skigebieten. Die Menschen stellen den Schnee her, sie imitieren und imaginieren ihn eine ganze Jahreszeit lang. Doch wenn er dann wieder einmal von selbst fällt, ist es fast so, als habe man vergessen, dass er weiterhin ein Naturereignis ist.
Die seltsame Hysteriebereitschaft der jüngsten Zeit, vom Rinderwahn bis zur Schweinegrippe, ist damit erklärt worden, dass diese Ängste in der vollständig individualisierten westlichen Welt gemeinschaftsstiftende Funktion übernehmen.
Wo es keine Religion mehr gibt, die die Menschen in ihrem Glauben vereint, müssen Epidemien und Katastrophen diese Aufgabe zumindest vorübergehend übernehmen. Die Schneepanik in diesem Winter aber hängt noch mit etwas anderem zusammen: Sie ist ein Effekt jener radikalen Sensibilisierung gegenüber dem Wetter, wie sie die Rede vom »Klimawandel« in den letzten Jahren herbeigeführt hat.
Im Zuge der beängstigenden Prognosen verhalten wir uns zum Wetter inzwischen grundsätzlich misstrauisch: Nichts kann mehr als schlichte klimatische Tatsache durchgehen – jede Äußerung des Wetters ist immer schon ein apokalyptischer Vorbote, ein Zeichen kommenden Unheils. Der Schnee der letzten Wochen fiel genau auf den Boden dieser kollektiven Sorge.
Die Rubrik Fünfzig Zeilen wird von drei Autoren abwechselnd geschrieben. Auf Andreas Bernard folgt nächste Woche Tobias Kniebe, danach Georg Diez.