An einem der längsten Tage des Jahres
träumte ich von einer Talkshow im Fernsehen,
deren Gäste ausschließlich Schildkröten waren.
Zuerst die Nachrichten, ganz normal, 20 Uhr,
mit Jan Hofer und Marietta Slomka,
die sich gegenseitig ins Wort fielen und schubsten,
und sich gegenseitig das Mikro aus der Hand rissen,
sodass Susanne Daubner beenden musste,
dann das Wetter mit Plöger, der vor Lachen
keinen einzigen Satz zu Ende sprechen konnte
und wie närrisch die Wetterkarte traktierte,
und schließlich Anne Will vor sechs Schildkröten,
alle mit Mundschutz und im Sicherheitsabstand,
die über Präsident Trump redeten, als sei der
noch am Leben. Eine der Schildkröten begann
jeden Satz mit: Wenn ich an Lincoln denke,
kam aber nicht weiter, Jan Hofer schenkte Wasser aus,
das er den Schildkröten über den Kopf goss,
und eine weibliche Schildkröte wollte für alte Möhren
eine Abfallprämie. Besonders eindrücklich war ein Tier,
das eine volle Stunde für seine Vorstellung brauchte.
Es war aus dem Zoo von Prag angereist, kannte noch
den Kaiser und Kafka und hatte lange im Untergrund
gelebt. Frau Will pochte immer auf ihre Uhr,
weil ihr die Zeit weglief, aber die Schildkröte war blind
und taub und nicht zu bremsen. Um vier in der Früh
wachte ich auf, an Schlaf war nicht mehr zu denken.
Im Wald, im Holzhaus – Michael Krüger aus der Quarantäne (15)
Der Schriftsteller Michael Krüger begann die Therapie gegen eine Leukämie gerade, als das Coronavirus sich verbreitete. Für das SZ-Magazin schreibt er Gedichte aus der Quarantäne. Folge 15: Schildkröten-Takshow mit Anne Will.