Im Wald, im Holzhaus (10)

Der Schriftsteller Michael Krüger begann die Therapie gegen eine Leukämie gerade, als das Coronavirus sich verbreitete. Für das SZ-Magazin schreibt er Gedichte aus der Quarantäne. Folge 10: Es wird nie wieder so sein wie vor der Krise.

Foto: Andreas Nestl

Der Kuckuck ist zurück, der Langstreckenzieher, noch etwas müde
von seiner nächtlichen Reise über Spanien, Frankreich, die Alpen,
aber ich hörte ihn heute früh, als ich mich nach den Nachrichten
vor dem Spiegel fragte, ob das Rasieren sich noch lohne,
und ich grüßte Cioran, Canetti und Blumenberg, die sich allesamt
diese Frage nach den Nachrichten gestellt haben, und die Welt
hat trotzdem jedes Jahr wieder ihren Frühling hervorgepresst,
auch wenn immer etwas fehlt, was nicht ersetzt werden kann,
zum Beispiel die Maikäfer, die ja nur auf der Welt waren,
um dem Kuckuck als Futter zu dienen. Naturschützer reden
von massiven Bestandseinbußen, wenn vom Kuckuck
die Rede ist, übrigens auch vom Feldhasen, dem Einzelgänger,
meinem Freund, von der Nachtigall will ich gar nicht reden.
Seit sie sich von uns abgewandt hat oder verwandeln ließ
in einen unfruchtbaren Stecken, ist die mitleidlose Frage,
ob eine Rasur sich noch lohne, dringender geworden.
Am besten, man verhängt die Spiegel und schaut nur abends,
nach Einbruch der Dunkelheit, in ein Fenster oder auf einen See.
Feldhasen können die Ohren einzeln bewegen. Der Kuckuck
ist also zurück und sucht eine geeignete Eiablage,
er rechnet mit der Dummheit oder der fragwürdigen Toleranz
anderer Vögel. Es soll bitte sein wie früher, vor allen Krisen,
als der Raubwürger und der Ziegenmelker gefälligst
den Schnabel hielten, wenn die Nachtigall zu singen anhob
und der Feldhase sich aus seiner Ackerfurche reckte
und die Enten nicht an Histomoniasis litten und ich
morgens fraglos an einem Spiegel vorbeigehen konnte.
Es ist aber nicht so, und es wird auch nie wieder so sein.