Es ist zu trocken. Bohrt man mit dem Finger ein Loch
in den Boden, spürt man nichts als rieselnden Sand.
Kein Regenwurm, keine Larve, kein Widerstand.
Kein Wunder, dass der dreijährige Apfelbaum, nicht
größer als ich und in die Breite gehend, kaum Blüten trägt.
Wie einsam er aussieht auf der Wiese, die mit Löwenzahn
angibt, wie ein plötzlich von der Kindheit ins Alter
gerutschter Greis, mit Pflöcken unter den dünnen Ästen.
Letztes Jahr ließ er sich noch von den Glühwürmchen
umschwärmen, wie ein leuchtendes Nervenbündel
sah er aus, und tagsüber suchten ihn die Falter
mit den gelben Westen heim, die aus allen Wolken
gefallen waren, ihm und mir zu Füßen. Die Zahl
der Toten steigt wieder an. Ich fing zwei Fliegen
mit einer Hand und ließ sie wieder frei. Haben Fliegen
Angst? Ich folgte mit den Augen einem Käfer,
der sich, frisch lackiert, als habe er in einem Ölbild
übernachtet, als Robinson durch die Natur bewegte.
Wohin des Weges, frug ich ihn. Maybe this road
leads nowhere, but someone is coming from there,
das hatte mir am Morgen Stuart Friebert geschickt,
ein Dichter aus Oberlin in Ohio, ein Freund von Günter Eich.
Es sind Zeilen aus einem Gedicht von Lars Norén,
die W.S. Merwin ins Englische übersetzt hat, alle tot,
bis auf Stuart natürlich. Und Lars. Man muss zur falschen Zeit am falschen Ort sein, sage ich den Löwenzähnen,
die wie kaltblütige Virtuosen ihr kurzes Leben feiern,
strotzend vor Kraft trotz aller Trockenheit.
Was bleibt denn übrig, wenn ich den langen Katalog
der Bitterkeiten abgebetet habe? Ich will mich
nicht am Zählen der Toten beteiligen, und merke doch,
wie meine Hände zucken. Zurück zum Gras, zum Käfer,
zu meinem armen Apfelbäumchen. Ich muss
den Dingen eine Wahrheit geben, die sie von selbst
nicht haben können, sonst geht alles ein. Ich auch.
Im Wald, im Holzhaus (12)
Der Schriftsteller Michael Krüger begann die Therapie gegen eine Leukämie gerade, als das Coronavirus sich verbreitete. Für das SZ-Magazin schreibt er Gedichte aus der Quarantäne. Folge 12: zur falschen Zeit am falschen Ort.