Im Wald, im Holzhaus – Gedichte aus der Quarantäne (17)

Der Schriftsteller Michael Krüger begann die Therapie gegen eine Leukämie gerade, als das Coronavirus sich verbreitete. Für das SZ-Magazin schreibt er Gedichte aus der Quarantäne. Folge 17: Ein Ballett für tote Schweine.

Foto: Andreas Nestl

Der Morgen sah aus, als wolle er einen helleren Tag ankündigen,
er stand vor der Tür, ging ums Haus und berührte die Scheiben.
Ich hörte ein vorsichtiges Klirren, ein Hüsteln, dann den Hahn,
der hinter den sieben Bergen lebt und dreimal kräht,
wie vorgeschrieben. Gestern habe ich ihn wieder besucht,
auf dem Weg nach Farchach, der durchs Moor führt,
an den Birken vorbei, die in ihren abgerissenen Uniformen
langsam versinken. Sie erinnern an Prediger, blass, ohne Überzeugung, ohne Passion. Hinter dem Wasserhäuschen leben zwei Ziegen mit mächtigen Bärten und gewaltigen Hörnern, keiner weiß, wie sie den Weg hierher gefunden haben. Vielleicht sind sie
dem Wasser gefolgt, vom Schwarzen Meer an der Donau entlang, 
der Isar, der Würm und dem Lüßbach, immer stromaufwärts,
bis hierher, wo der Hahn lebt, der aus tiefster Überzeugung kräht.
Jasmin, Buschwindröschen, man erstickt fast von ihrem Geruch.
Der Weg wird dann eng, man darf nur als Kind passieren oder
man muss Kinderlieder singen, alle Strophen, außerdem
empfiehlt es sich, den Schatten vorauszuschicken, er kennt
den Weg durch die Dornen. In Farchach hat man den Dorfbrunnen
in die Grundmauern der Kirche eingelassen. Legt man das Ohr an den Stein, hört man sämtliche Liturgien, die das Wasser berührt hat, auch den Schofar und gregorianische Gesänge, sogar eine Klage aus Kilikien kann man hören, wenn die Amseln es zulassen. Das Wasser ist so dunkel, dass man sich darin spiegeln kann. Aber heute ist der Morgen hell, die Linden sind bereit für den Ansturm der Bienen. Du darfst frei atmen. Ein Teil der Luft gehört dir. Auch die Hand gehört zu dir, mit der du das Holz berührst, das sich langsam erwärmt. Das Dunkel trägst du immer bei dir, aber gut versteckt, damit kein Zwielicht entsteht, in dem man nichts mehr erkennt. Gestern fuhr im Fernsehen eine angstfreie Kamera durch eine Fleischfabrik, viertausend Schweine werden verarbeitet pro Tag. Sie hängen an Haken an einem Gestell, und jeder Fleischer schneidet sich ab, was er braucht, die Ohren, den winzigen Schwanz, die Füße. Alles sehr sauber und traurig. Ein Ballett für tote Schweine. Kein Schrei, kein Blut. Die Schreie waren schon vorher verkauft worden, das Blut war versickert in den kalkhaltigen Kiesschichten des Planeten. Aber heute ist ein schöner Tag. Ich werde ihn nicht vergessen.