Durch die kahlen Zweige kann ich den See blinken sehen,
der in der Sonne wie ein großes Fass Quecksilber aussieht,
das gleich überschwappt. Der Himmel ist nun endgültig leer,
seit keine Flugzeuge mehr fliegen dürfen, früher hätte man
gesagt: Gottes Stunde ist angebrochen. Eine Ausnahme gibt es,
nämlich die dicken, fensterlosen Tarnfarbenbrummer,
die entweder über mich hinwegfliegen, um nachzusehen,
ob ich noch am Schreibtisch sitze, oder auf dem Weg sind
in ärmere Gebiete, um ihre schweren Waffen loszuwerden.
Damit manche Afrikaner und Araber endlich ein geglücktes Leben
nach ihren eigenen Vorstellungen verwirklichen können,
braucht es natürlich scharfes Gerät. Sie benehmen sich
wie Kinder. Auch neue Vögel sind eingetroffen,
die sich nicht vorgestellt haben. Sie staken irgendwie trostlos
über die Wiese, als müssten sie das Wort zum Sonntag üben.
Im Aubachtal, hier ganz in der Nähe, gibt es noch Kiebitze,
die Oberkellner unter den Vögeln, aber es will sie keiner
mehr haben. Ja, Gottes Stunde ist angebrochen, daran gibt es
keinen Zweifel. Die Blumen sind so winzig in diesem Frühjahr,
dass selbst die ersten Bienen über sie hinwegfliegen.
Aquilegia vulgaris, der Elfenhandschuh, wie meine Großmutter
die Akelei genannt hat, ist kaum zu sehen, die Anemonen
und Veilchen kriechen förmlich auf der Erde. Ich kann sie
nicht verstehen, weiß aber, was sie sagen: Du musst dich
zu uns herunterbeugen und nicht wie die liberalen Eliten
auf uns herabschauen. Also lege ich mich auf die Erde,
werde klein wie der Däumling, lege mich zu Ranunkel
und Glockenblumen und warte ohne jede Eile darauf,
dass Gott seine Stunde nutzt oder eben nicht nutzt.
Auf jeden Fall, will ich damit sagen, bin ich vorbereitet.
Im Wald, im Holzhaus – Michael Krüger aus der Quarantäne (8)
Der Schriftsteller Michael Krüger begann die Therapie gegen eine Leukämie gerade, als das Coronavirus sich verbreitete. Für das SZ-Magazin schreibt er Gedichte aus der Quarantäne. Folge 8: Gottes Stunde ist angebrochen.