Ihr Wagen steht an einem Feldweg voller Schlaglöcher, parallel zur Freisinger Landstraße, Luftlinie etwa 800 Meter vom Fröttmaninger Stadion entfernt. Es ist schon dunkel, lange wird sie nicht mehr bleiben. Zu Hause wartet ihr Mann. »Kein einziger Freier, nicht einer«, sagt Sissi*, hebt die Hände und lässt sie aufs Lenkrad fallen. Vielleicht hätte sie ja doch noch einen Tag länger bei ihren Enkeln bleiben sollen, die sie am Wochenende besucht hat. Sissi ist 65. Sie steht seit fast vierzig Jahren auf dem Fröttmaninger Straßenstrich.
Auf dem Beifahrersitz liegt eine Plastikschachtel mit Feuchttüchern, auf der Rückbank stapeln sich zerfledderte Klatschmagazine: Für Sie, Neue Post, Freizeit Revue. »Das Schlimmste an dem Beruf ist das Warten.« Sissi sieht ein bisschen so aus, wie man sich eine Puffmutter vorstellt, mit ihren pechschwarz gefärbten Haaren, der grellen Schminke und dem Leopardenfelljäckchen über der üppigen Brust.
Auf dem Fröttmaninger Strich sind die Huren gemeinsam mit ihren Freiern alt geworden. Einer kommt immer mit dem Bus, packt an der Haltestelle sein Gehwägelchen aus und schiebt sich hinüber zu den Autos. Alle, die hier anschaffen gehen, leben von Stammkunden, das hat sich durch den Bau der Arena nicht geändert und das wird auch durch die Weltmeisterschaft nicht anders, meint Sissi: »In der Stadt macht ein Club nach dem anderen auf, die holen Mädchen aus dem Osten, die werden da Schichtdienst machen. Aber zu uns verirrt sich keiner. Nach den Spielen fahren doch alle vom Stadion wieder in die Stadt zurück.« An diesem Abend brennt auch nur noch in einem Geländewagen Licht, der etwas weiter in Richtung Wald und Müllberg parkt. Hinter dem Müllberg kann man das rote Leuchten der Arena schimmern sehen.
Im sechsten Stock des Fröttmaninger Stadions steht Peter Kerspe, 57, graue Haare, dunkler Anzug, in seinem Büro und schaut auf die Uhr. Der Geschäftsführer der Allianz Arena hat, wie immer, viel zu tun. Die Übergabe des Stadions an die Fifa steht an, eine Menge Dinge müssen noch erledigt werden, die Liste der Fifa ist lang: alle Werbetafeln abdecken, alle Logen leeren, den Rasen erneuern, einen äußeren Sicherheitsring schaffen. Das so genannte Hospitality Center muss fertig gestellt, zusätzliche Pressetribünen gebaut werden. Die Cateringfirma kommt mit eigenem Geschirr, eigenen Leuten, eigenem Konzept. Und, und, und. »Ein riesiger logistischer Aufwand«, sagt Kerspe und klappt seinen Laptop mit einer geübten Handbewegung zu. Gerade wurde der leuchtende Schriftzug der Arena abmontiert, der Lkw-Anhänger mit den riesigen blauen Buchstaben steht abfahrbereit. Für die Dauer der Weltmeisterschaft heißt die Allianz Arena dann »FIFA WM-Stadion München«. Anfangs, als der Bau noch nicht stand und die Namensrechte noch nicht verkauft waren, sagte man noch »Fußballstadion Fröttmaning«. Damals arbeitete Peter Kerspe in Berlin, die Familie lebte aber in München. »Die A9 war meine Rennstrecke zum Flughafen.« Er fuhr oft dort vorbei, wo jetzt die Allianz Arena steht, abgefahren ist Kerspe nicht. Da war ja nichts, nicht einmal eine Ausfahrt.
Zwischen der Fröttmaninger Arena und dem Fröttmaninger Straßenstrich, fast genau in der Mitte sogar, da lag Fröttmaning. Das Dorf, in dem in der kommenden Woche die Weltmeisterschaft eröffnet wird. Das Dorf, das es nicht mehr gibt. Sein Schicksal war bereits besiegelt, als der angrenzende Müllberg der Stadt Mitte der fünfziger Jahre mehr und mehr Platz beanspruchte. Die vier Bauernhöfe wurden abgerissen, Schutt und Abfall an ihre Stelle geschoben. Übrig blieb nur die Kirche und der Name: für den Straßen-strich, den es seit 1947 gibt, den U-Bahnhof, die Autobahnausfahrt. Auch eine neue Gebrauchtwagen-Niederlassung und ein großer Baumarkt haben sich nach dem einstigen Dorf benannt. Die Arena wurde in das Nichts eines verschwundenen Dorfes gesetzt, das selbst die Kartografen und Vermessungsbeamten der Stadt München schon lange nicht mehr kennen. In ihren Akten finden sie nur die Ziffer 12/21, für den Platz, an dem die Heilig-Kreuz-Kirche steht.
Dorthin führt vom Stadion aus eine schmale Betonbrücke über die sechsspurige A9, hinüber zum Müllberg, der zum Naherholungsgebiet erklärt wurde. Ganz oben dreht sich gemächlich ein Windrad, auf den schrägen Wiesen trotten Schafe übers Gras, vor einem Waldstück steht der Bauwagen des Schäfers. Zwei Mountainbiker kreuzen den Weg. Gleich am ersten Hang fotografieren sich drei aufgeregte Japaner mit einem Kirchlein, dessen untere Hälfte im Müllberg verschwindet. Eine Installation, die dem Original verwirrend ähnlich sieht und auf das Schicksal des Dorfes Fröttmaning anspielt – begraben vom Müll der Großstadt. Ein paar hundert Meter weiter: die echte Heilig-Kreuz-Kirche. Auf dem Schild über der Tür steht »Katholische Kirche des ehemaligen Dorfes Fröttmaning von 815«.
Auf den hölzernen Kirchenbänken sitzen Männer in farblosen Stoffhosen und Frauen mit großen Handtaschen. Vor dem Altar spricht ein grauhaariger Mann im Trachtenjanker über die Geschichte der Kirche. Ludwig Maile ist Kirchenpfleger, er doziert vor einer Münchner Seniorengruppe. Die meisten von Mailes Zuhörern, vor allem die männlichen, wären allerdings lieber auf der anderen Seite der Autobahn, bei der anderen Führung. Aber die Stadion-Touren waren ausgebucht.
Die Damen nicken anerkennend, als Maile davon erzählt, wie die Kirche immer wieder vor dem Abriss bewahrt wurde. Erst sollte sie in den Fünfzigern dem Müllberg weichen, dann, in den Siebzigern, dem Autobahnkreuz München-Nord und in den Achtzigern wieder dem Müllberg. Dabei kann Maile doch bei jeder seiner Führungen verkünden, dass diese Kirche die älteste Münchens ist, ja: die einzige romanische Kirche Münchens. Und sogar die einzige Kirche Deutschlands, in der romanische Fresken direkt auf die Ziegel aufgetragen wurden, eine kunsthistorische Sensation! Die Damen nicken.
Maile arbeitete früher, im alten Fröttmaning, als Verwalter des städtischen Guts Großlappen. Nachdem die Stadt die Höfe der Fröttmaninger Bauern gekauft hatte, war er für die frei gewordenen Flächen zuständig. Manche davon wurden zur Klärschlammverkippung genutzt, andere einfach dem Müllberg zugeschlagen und mit Abfall aufgeschüttet. Maile kennt alle, die im Dorf lebten. Er kennt auch die meisten, die auf dem kleinen Friedhof rund um das Kirchlein liegen. Sein eigenes Grab ist schon abgesteckt, eine kleine freie Rasenfläche zwischen den mächtigen alten Grabsteinen der Widmanns, Kosmatschs, Wiesmayrs und Leinthalers, der Fröttmaninger Familien. Dass er dann neben dem Müllberg liegt, stört ihn wenig. »In zwei Meter Tiefe würd ich auch nichts riechen, wenn ich dann noch leben tät.« Jetzt lachen die Männer.
Nach der Führung schließt Maile die Kirchenpforte wieder zu, zwinkert verschwörerisch und deutet mit dem Kopf auf das Stadion hinüber. »Den Namen Fröttmaning haben sie sich genommen, für das Stadion und die Ausfahrt und die U-Bahn und was weiß ich noch. Aber gegeben haben sie uns nichts dafür.« Das ist es, was die alten Fröttmaninger irritiert: Um ihr Dorf, das älter als München ist, hat sich kein Mensch geschert, nie, aber jetzt, wo es lange verschwunden ist, tun plötzlich alle so, als sei es noch da.
An das Dorf Fröttmaning kann sich Peter Kerspe, der Geschäftsführer der Allianz Arena, nicht erinnern, obwohl er ganz in der Nähe aufwuchs. Genauer gesagt, wusste er bis gerade nicht einmal, dass unter dem Schuttberg einmal ein Dorf war. Seine Eltern zogen 1956 mit ihm in die Stadt, lange her, das alles. Aber er findet, dass »der Müllberg inzwischen doch ganz gut aussieht«.
Jetzt will der Geschäftsführer aber den Innenraum des Stadions zeigen, des modernsten, schönsten, besten Stadions der Welt. Über weiche Teppiche vorbei an hellen Büros, »das Marketing«, dann durch weiß gekachelte Gänge vorbei an Küchen mit glänzenden Edelstahlarmaturen, »das Catering«, Peter Kerspe geht voran. »Man verläuft sich hier leicht«, sagt er, hält Türen auf, nickt stumm allen zu, die ihm entgegenkommen. Die wenigsten tragen Anzug und Krawatte wie er, die meisten scheint er zu kennen. Mehr als zweihundert Menschen arbeiten hier jeden Tag, Elektriker, Küchenhilfen, Empfangsdamen, sogar eine Kindergärtnerin. Wenn Spiele stattfinden, sind es 1500.
Sissi sitzt in ihrem Wagen und wartet. Nun, endlich, bekommt die Kollegin im Jeep Kundschaft. Sie rollt an Sissi vorbei und blendet zweimal auf. Das heißt: Der Typ scheint in Ordnung. Zuhälter gibt es hier keine. Die Huren der »Freisi«, wie die Frauen den Fröttmaninger Strich nennen, passen aufeinander auf, sie kennen sich schon lange. »Eine ist gestorben, eine ein Pflegefall, zwei haben vor ein paar Jahren neu angefangen«, zählt Sissi auf. Hundert Euro sollte ein Tag schon einbringen, das sind im Schnitt drei Kunden. Noch immer war keiner da. Früher, als ihre beiden Kinder noch klein waren, kam sie um neun, nachdem sie die Mädchen in den Kindergarten gebracht hatte. Um fünf holte sie die Kleinen wieder ab. »Alltag einer Familie«, sagt sie. Eine Tochter ist vor nicht allzu langer Zeit gestorben, an Krebs. Sissi trägt ihr Bild an einer goldenen Kette um den Hals. Nach dem Tod der Tochter kam ihr die Disziplin ein bisschen abhanden. Sie blieb oft zu Hause. Erst in letzter Zeit fing sie sich wieder. Jetzt will sie noch ein paar Jahre arbeiten.
Auf dem Weg durch die Gänge der Arena reiht Peter Kerspe derweil Zahlen aneinander, die sich zu einer Erfolgsbilanz des noch jungen Stadions verschränken. Dass bis zu 10 000 Menschen Tag für Tag kommen, um die Arena anzusehen, auch wenn gar kein Spiel stattfindet. Dass ungefähr 2000 Leute pro Tag eine Führung mitmachen können. Dass vergangenes Jahr insgesamt 400 000 Menschen das Stadion besichtigt haben. »Bei im Schnitt sechs Euro pro Führung rechnet sich das«, sagt Peter Kerspe, nickt, und hält wieder eine Tür auf. Jetzt noch quer durch den VIP-Bereich, in dem an Spieltagen die Boris Beckers und Edmund Stoibers an runden Stehtischen lehnen, dann öffnet Kerspe eine Art Terrassentür und tritt hinaus ins Stadionrund. »Wunderschön, und einiges los, oder?« Durch die vielen verglasten Logen laufen Menschen, hier finden Konferenzen, Produktvorstellungen und Vorträge statt, von Coca-Cola bis Microsoft, Powerpoint-Präsentationen mit Blick auf den Rasen. Die Bedingungen sind ideal, so direkt an der Autobahn, mit Europas größtem Parkhaus und U-Bahn-Anbindung. »Der Standort Fröttmaning war eine gute Wahl, allein die Arena GmbH macht etwa 40 Millionen Euro Umsatz«, sagt Peter Kerspe. Da sind die Einnahmen der Vereine noch nicht mitgerechnet. Er lässt sich zufrieden in einen der Sitze im Oberrang fallen.
Die Arena ist der Herzschrittmacher, der die Gegend um das vergrabene Dorf wiederbelebt, wenn auch ganz anders: Es ist ein geschäftiges, ein modernes Fröttmaning, das sich um das Stadion herum bildet. Ein Baumarkt eröffnete, so die Eigenwerbung, »nur einen Steinwurf von der Arena«, nämlich dort, wo die Autobahnausfahrt sich in Richtung Stadion dreht, fünfzig Meter weiter dann das flache, glasglänzende Gebäude eines Autoherstellers. Direkt gegenüber soll in Kürze mit dem Kunstpark Nord eine Partyzone gebaut werden. »Allerdings, baulich gesehen, kein Hallensammelsurium wie früher der Kunstpark Ost, sondern geordnet, das muss schon reinpassen«, betont Thomas Rehn, zuständiger Abteilungsleiter der Münchner Stadtplanung. Er kann sich dort auch gut ein Hotel vorstellen, »mittlere bis gehobene Preisklasse, das Stadion strahlt schon ein sehr positives Image aus.« Ein weiteres städtisches Grundstück neben dem Baumarkt wird wohl erst nach der WM vergeben, an Interessenten wird es nicht mangeln. Krönung des neuen Fröttmaning soll das Projekt »HaidPark« Fröttmaning sein, das der Fröttmaninger Heide im Süden des Stadions eine letzte Ecke abzwacken wird: Dort soll ab nächstem Jahr eine ökologische Mustersiedlung entstehen, aus den Prospekten springen einem Schlagworte wie Photovoltaik, Solarthermie und naturnahe Freiflächengestaltung entgegen. Ein Drittel der rund 500 Wohnungen soll außerdem für sozial schwächere Schichten reserviert werden. Neue schöne heile Welt Fröttmaning.
Dieses Fröttmaning fand längst Eingang in die Immobilienspalten der Zeitungen, mit dem Namen und dem Stadion wird selbst für Wohnungen geworben, die nicht einmal in Gehweite zur Arena liegen. Wäre das Areal selbst nicht im Westen durch die Heide, im Norden und Osten durch Autobahn und Müllberg sowie im Süden durch Wohngebiete begrenzt – es würde immer weiter wachsen. Auch ein Marketing-Erfolg der Arena: »Wir haben dafür gesorgt, dass Fröttmaning kein Synonym mehr für Müllkippe ist«, sagt Peter Kerspe, wieder in seinem Büro. Jetzt, wo der Name gründlich poliert ist und ein Investor nach dem anderen die Arena-Lage für sich entdeckt, stören eigentlich nur noch die Kläranlage auf der anderen Seite der Autobahn und die Sondermüllentsorgung hinter der Arena, auf die Peter Kerspe von seinem Schreibtisch aus schauen muss: »Den Müll könnte man doch auch woanders sortieren. Ich stelle mir an dieser Stelle eher ein großes Hotel vor.« Immerhin: Die Kläranlage wird bis 2008 neue Faultürme bekommen, die keinerlei Gerüche mehr herauslassen und – das ist ausdrücklich gewünscht und kostet extra – besser ins Gesamtbild passen: Statt der bisherigen bräunlichen Eier werden dort bald silbrige Kegelstümpfe glitzern. Beide Anlagen sind Relikte jener Zeit, in der Fröttmaning nur der dreckige Hinterhof des stetig wachsenden München war.
Tatsächlich lud die Stadt seit der Eingemeindung des Dorfes 1935 rund herum fast alles ab, wogegen Anwohner heutzutage gern Unterschriften sammeln: Europas größte Kläranlage, ein Autobahnkreuz, den Straßenstrich, einen Lagerplatz für Landfahrer, Unterkünfte für Kriegsflüchtlinge, eine Moschee und die Windkraftanlage. Vor allem aber: den Müllberg. Im Münchner Norden wohnten arme Bauern und Arbeiter. Viel Gegenwehr war da nicht zu erwarten.
»Na ja, man konnte es damals nicht ändern und heut erst recht nicht mehr. Es ist halt, wie es ist«, sagt Karoline Widmann und nimmt die Hand ihres Mannes, sie sind beide über achtzig. Das Ehepaar sitzt auf einer Bank vor der Heilig-Kreuz-Kirche, keine hundert Meter von der Stelle entfernt, an der vor fünfzig Jahren noch das eigene Terrassenbänklein gestanden hat. Dort, wo sie früher Kühe und Pferde in den Stall trieben, rasen jetzt Autos auf der A9 in Richtung München. Auf einem Grünstreifen erkennt Widmann einen Kastanienbaum und eine Esche aus seinem Garten.
Karoline Widmann will nicht, dass ihr Hans in der Zeitung als Protestierer erscheint, deswegen soll er nicht so über das schimpfen, was sie nicht ändern konnten. Aber der hat sich schon in Rage geredet: »Seit im Sommer 1954 die Müllverwertung in Betrieb genommen worden ist, war auf meinen Wiesen oft knöchelhoch Müll und Glump und Zeug, weil der Wind alles über den Zaun herübergeblasen hat!« Mit dem Abfall kamen Ratten und Ungeziefer auf seinen Hof, der Geruch von Verwesung drang sogar durch geschlossene Fenster. Fast jede Nacht brannte der Müllberg, wegen der Gase, die sich im Schutt bildeten. Aschewolken legten sich über die Fel-der, feiner Staub drang in alle Ritzen. Ständig rückte die Feuerwehr an. Morgens sollten die Bauern dann wegen der Dämpfe ihre Fenster geschlossen halten.
Die Stadt bot 1955 an, die Höfe zu kaufen, ein Jahr später willigte Widmann ein. Es muss weitergehen, das haben sie sich damals gesagt und einen Hof außerhalb gekauft. Das Geld von der Stadt war ja nicht wenig – »aus damaliger Sicht«, wie Hans Widmann betont. Keiner soll denken, sie seien reich geworden, weil sie ihren Heimatflecken verkauften. Diesen Sommer haben die beiden Diamantene Hochzeit: sechzig Jahre Ehe. Kennen gelernt haben sie sich hier, in Fröttmaning. Geheiratet natürlich auch. Die Grabstätte der Familie ist auf dem Fröttmaninger Friedhof, auch Hans und Karoline werden hier einmal liegen.
Hans Widmann zeigt mit einer Hand, an der wegen eines Arbeitsunfalls ein Finger fehlt, auf die Arena: »Das Ding steht zu zwei Dritteln auf meinem ehemaligen Grund, meine Schafe habe ich da gehabt.« Dann lacht er. Irgendwie gefällt ihm die Vorstellung, dass in einer Woche die ganze Welt auf seine Weiden schaut. Als er sie verlassen musste, war Deutschland gerade zum ersten Mal amtierender Weltmeister.
Hinter den Laubbäumen, die sich wie ein schützender Ring um die alte Kirche gruppieren, taucht das Gras, ehe es den Müllberg hinaufklettert, in eine kleine Mulde, etwa dreißig auf fünfzig Schritte breit. Dort wohnten die Rebellen von Fröttmaning. Denn nicht alle gingen damals, als die Stadt ihnen Geld anbot: Babette Kosmatsch, Hans Widmanns Schwester, blieb. Mehr als 25 Jahre. »Die Mutter war stur, nicht ums Verrrecken wollt die weg«, sagt ihr Sohn Josef Kosmatsch. Er bewirtschaftet heute den Aussiedlerhof an der Freisinger Landstraße, den die Stadt für seine Mutter bauen ließ, auf der anderen Seite des Müllbergs, dort, wo die Huren stehen. Babette Kosmatsch zog allerdings erst um, als ihr die Stadt 1982 Wasser und Strom abgestellt hatte und abwechselnd mit Entmündigung und Zwangsenteignung drohte. Die Oase der Rebellen war ein verwildertes Gelände mitten im Müllberg, in dem überall Autowracks vor sich hin rosteten. Außer Babette Kosmatsch und ihrem Sohn lebten dort unzählige Katzen, Hunde und Hühner, ein paar Pferde, ein Esel, 150 Schafe und immer wieder Gestalten wie der »Benne«, der »Klaus« und der »Professor«, der eigentlich Herbert hieß und Baggerfahrer war: Obdachlose und Streuner, die sich Decken und Matratzen in Bauwagen gelegt hatten, jeden Tag mit ein paar Flaschen Bier im Gepäck auf den Müllberg stiegen und alles herauszogen, was sich irgendwie zu Geld machen ließ. Auch die Huren vom nahen Straßenstrich sollen oft da gewesen sein, erst in den leer stehenden Höfen, dann in den Bauwagen.
Erzählen kann Babette Kosmatsch davon nicht mehr, sie ist ein Pflegefall, 94 Jahre alt, verwirrt und schwer krank. »Wir warten jeden Tag darauf, dass sie die Augen zumacht«, sagt ihr Sohn und scheucht mit einem Holzstecken einen seiner schwarzen Hirtenhunde vom Zaun, der sich jaulend hinter einen Stapel alter Reifen verzieht. Josef Kosmatsch muss weg, arbeiten: 500 Schafe hält er. Doch dann dreht er sich noch einmal um, reckt den Stock hoch in die Luft wie ein Schwert und ruft: »Sagen Sie denen am Stadion ruhig, dass dort nicht Fröttmaning ist. Ich bin in Fröttmaning geboren, und da ist nichts mehr!«
Mitarbeit: Sophie Weber