Der Schuss
Ich sage nicht, ich hätte den Ball besser links oder rechts oben ins Eck schießen sollen. Ich sage: Ich hätte diesen Ball überhaupt nicht anrühren dürfen! Es war nicht meine Aufgabe, Elfmeter zu schießen, aber keiner hatte den Mut, es zu machen, auch nicht der Kapitän, also habe ich es getan.
Ja, ich habe verschossen, und ja, das war für 1860 München der Abstieg in die zweite Liga. Noch heute, drei Jahre später, werde ich darauf angesprochen. Die Medien haben so getan, als ob ich den Abstieg allein verschuldet hätte, der »FC Francis Kioyo«. Aber wir hatten 34 Punktspiele, nicht nur das eine, oder? Ich habe seitdem nie mehr einen Elfmeter geschossen. Francis Kioyo, 27, ist heute Stürmer des FC Energie Cottbus.
Der Sprung
Ich frage mich bis heute: Was war anders an diesem einen Sprung? Am Peracher Badesee war ich schon als kleiner Junge schwimmen, es gibt dort einen Steg, das Wasser ist nicht sehr tief, vielleicht 1,50 Meter, aber das reicht, auch für Kopfsprünge, das machen da alle. Es war der Sommer 2003, ich war 28 Jahre alt. An dem Tag bin ich sicher zehnmal gesprungen. Beim letzten Mal habe ich nur einen leichten Stoß am Kopf gemerkt, danach ein Gefühl, als würde Strom durch meinen Körper fließen. Ich konnte Arme und Beine nicht mehr bewegen. Ein Freund rief: »Hör auf, mit so was macht man keinen Spaß!«, das hörte ich unter Wasser. Dann packte mich jemand und zog mich raus. Das vergesse ich nie: Ich liege auf der Wiese, jemand hält meine Hand, und ich sage: »Oh Gott, was habe ich gemacht, jetzt bin ich mein Leben lang ein Pflegefall.«
Seitdem versuche ich, den Unfall zu akzeptieren. Es gibt Tage, an denen ich nur flenne, aber es werden weniger, am Anfang hatte ich sieben schlechte Tage die Woche, dann sechs, dann fünf, jetzt sind es zwei im Monat.
Kurz nach dem Sprung gab es einen besonderen Moment: Wir waren in der Unfallklinik, vier auf einem Zimmer, alle querschnittsgelähmt. Einer hatte eine Flasche Whisky, die haben wir zusammen geleert. Alkohol lockert ja die Zunge, irgendwann fing ich an zu weinen. Wir haben alle geweint. Und dann sagte der Jüngste von uns, er war erst 19 Jahre alt: »Hey, davon lassen wir uns doch nicht unterkriegen.«
Robert Unterstraßer, 32, arbeitet im Krankenhaus Reischach.
Die Schwäche
Drei Monate und fünf Tage. Seit drei Monaten und fünf Tagen hatte ich nicht mehr geraucht. Mein Kopf zählte noch mit, war also noch mittendrin in der Sucht, aber mein Körper hatte es schon geschafft. Nach 18 Jahren Abhängigkeit von Zigaretten lebte ich endlich in Freiheit. Und saß mit meiner Freundin Kate in einem knallroten Ford Mustang Cabriolet. Wir hatten die Nacht im Flugzeug verbracht und waren auf dem Weg nach Key Largo. Kurz zuvor war der Hurrikan Wilma über Florida gebrettert, das Land sah aus wie nach einem Krieg, abgerissene Leuchtreklamen baumelten im Wind.
Als es dunkel wurde, stellten wir zwei Dinge fest: 1. Die Straßenlampen funktionierten nur selten. 2. In allen Hotelzimmern schliefen die Leute vom Katastrophenschutz. Eine Weile blieben wir cool. Aber als wir nach Stunden noch immer keine Unterkunft hatten, setzte der Stress ein. Gegen drei Uhr nachts nahm uns ein zahnloses Monster auf und 80 Dollar für eine kakerlakenverseuchte Pritsche ab. Schon gegen vier wurde es uns zu widerlich, wir setzten uns vor der Tür auf den kalten Beton und fühlten uns entsetzlich verlo-ren. Ich zögerte kurz – und dann steckte ich mir eine von Kates Zigaretten an. Der Rauch gaukelte mir Entspannung und Zuversicht vor. Seitdem weiß ich, dass ich ein schwacher Mensch bin. Schieben wir’s auf Wilma.
Simone Buchholz, 35, Journalistin, hat es bis heute nicht geschafft, noch mal mit dem Rauchen aufzuhören.
Der Irrtum
»Nein danke«: Die zwei Worte treiben mir heute noch die Wut ins Gesicht. Ich hatte ein paar kleinere Aufträge für Apple gemacht, Marketingkram, in den Neunzigerjahren. Irgendwann kamen die auf mich zu und boten mir, als Zeichen der Dankbarkeit, Aktien an, zu Schnäppchenpreisen. Ich dachte, na ja, der Laden geht doch sowieso bald pleite, und lehnte ab. Wenig später erfand Apple den iPod.
Helmut Schwarz, 35, um ein Haar Millionär, ist heute Journalist in München.
Der Satz
Meine englische Freundin und ich hatten uns betrunken vor einem Club in London gestritten. Auf einmal stand eine Gruppe von Kerlen um uns herum, Typen, mit denen man echt keinen Ärger will. Sie fragten, was das soll, warum ich die Frau anschreie. Meine Freundin hat sie mit ein paar Worten beruhigt, eigentlich war alles vorbei, die gingen – aber dann habe ich dem Wortführer auf Englisch hinterhergerufen: »Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß, Arschloch!« Ich weiß nur noch, wie er sich umdreht und auf mich zurast. Sein erster Schlag hat mich ausgeknockt, ich fiel bewusstlos um und stürzte mit der Stirn ungebremst auf die Bordsteinkante.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einer Blutlache, eine Polizistin redete auf mich ein. Bis heute habe ich zwei dicke Narben auf der Stirn, die sich taub anfühlen. Maulhalten wäre eine echte Alternative gewesen.
Sebastian K., 29, lebt in Berlin und habilitiert sich gerade in Philosophie.
Die Nacht
Columbus, Ohio, an Halloween 1985: Ich bin zu einer Party eingeladen. Ein Freund holt mich ab, er bringt noch einen Bekannten mit. Wir sehen uns in die Augen – und sofort ist alles klar. Wenn es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gibt, das hier musste sie sein. Wir verbrachten eine rauschende Party und dann eine leidenschaftliche Nacht. Nicht einen Augenblick dachte ich daran, dass ich mich vielleicht vor einer HIV-Infektion schützen sollte. Dabei wusste ich bereits im Jahr 1985, dass es HIV gibt und dass das gerade in San Francisco, wo der Mann herkam, ein großes Problem war.
Unsere Liebe hielt drei Monate – geblieben ist nur die Infektion. Damals sagten mir die Ärzte, dass ich noch zwei Jahre zu leben hätte. Heute, 20 Jahre später, habe ich mich an das Leben mit HIV einigermaßen gewöhnt. Aber immer, wenn ich damit Probleme habe, bei der Medikamentenum-stellung oder wegen Nebenwirkungen, frage ich mich, ob dieser kurze Moment damals all die Probleme wirklich wert war. Die Antwort ist jedes Mal dieselbe: Nein.
Michael Tappe, 48, lebt in München und arbeitet als Sozialpädagoge.
Das Schweigen
Ich reiste ein Jahr lang durch Australien. An der Ostküste habe ich einen sehr netten Kanadier kennengelernt, wir haben uns super verstanden und ein paar Tage gemeinsam verbracht. Wellenreiten, nächtelang reden, mehr nicht. Aber als ich allein weiterreiste, habe ich es schon bereut. Ich dachte: Das war er, der Mann fürs Leben.
Monate später, an der Westküste, saß ich mit anderen Rucksacktouristen zusammen. Ein Joint ging rum, ich zog auch mal daran – der größte Fehler meines Lebens. Denn danach, in der Stadt, sehe ich plötzlich den Kanadier, nur kurz, in der Menschenmenge. Tausende Kilometer entfernt von dem Ort, an dem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber der Joint hatte mich umgehauen, ich war kaum fähig aufzustehen, ich schaffte es nicht mal zu rufen. Dann war er verschwunden. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
Franziska W., 31, lebt als Lehrerin in München.
Das Nicken
Ich war 21, meine damalige Freundin Martina* und ich machten Urlaub bei ihren Freunden Mike* und Susanne*, die in Portugal an einem Stausee wohnten. Zehn Tage schwimmen, spazieren gehen, Schach. Am Tag vor unserer Abreise beschlossen wir, einen letzten Ausflug mit dem Boot zu unternehmen.
In der Rückschau fügen sich die Ereignisse wie ein Puzzle zusammen, es ist klar, dass alles auf eine Katastrophe zulief. Wir standen am Boot, das Wetter war nicht besonders, aber auch nicht dramatisch schlecht. Mike und ich sahen uns an, nickten uns zu und beschlossen loszufahren. Unter allen Bildern an diesem Tag ist es genau dieses eine, das immer wiederkehrt, in der Erinnerung fast verlangsamt: der eine Moment, den ich gern rückgängig machen würde.
Als wir losgerudert waren, kam plötzlich heftiger Wind auf, wir versuchten zu wenden, aber das Boot kenterte sofort, es sank wie ein Stein. Mike rief mir zu: »Du bei Martina, ich bei Susanne!« Schnell verloren wir uns aus den Augen. Ich versuchte, trotz Wind und Wasser und Panik ruhig zu bleiben, streifte die Schuhe ab, schwamm endlos mit Martina, bis wir das Ufer erreichten. Danach verschwimmt meine Erinnerung.
Ich fand Susanne am nächsten Morgen auf der anderen Seeseite, auf dem Rücken liegend, die Arme ausgebreitet, Sand in den Augen, tot. Daneben meine Schuhe, ein Schachspiel, Blätter aus meinem Adressbuch. Nach drei Tagen brach die Polizei die Suche nach Mike ab. Etwas später reisten wir wohl ab, ich habe daran keinerlei Erinnerung mehr. Mike wurde nach sechs Wochen an der Staumauer angetrieben.
Martina und ich trennten uns kurz darauf. Wir konnten damit nicht umgehen. Sie las nur noch Mikes Tagebücher. Es dauerte 15 Jahre, bis ich zum ersten Mal wieder in einem See geschwommen bin. Und erst letztes Jahr, nach 20 Jahren, kam meine Erinnerung plötzlich in Bruchstücken wieder. Die Erinnerung an dieses eine Kopfnicken.
Patrick K*., 45, lebt als Künstler in München.
*Name von der Redaktion geändert.
Die E-Mail
Ein ruhiger Tag in der Redaktion. Plötzlich machte sich mein Chef wenige Meter entfernt von mir an einem Schrank zu schaffen, in dem Parfums aufbewahrt wurden. Es war die Redaktion eines Lifestyle-Magazins, ein gut gefüllter Duftschrank war da Grundausstattung. Nachdem er mit einem Flakon in der Hand und einem zufriedenen Grinsen im Gesicht den Raum verlassen hatte, schrieb ich einem Kollegen, der die Szene ebenfalls beobachtet hatte, eine E-Mail: »Der alte Romantiker.
Und zu Hause erzählt er dann seiner Frau, er wäre extra noch in der Parfümerie vorbeigefahren!« Keine zehn Sekunden später klingelte mein Telefon, der Chef war dran. Er fragte frostig, was daran so schlimm sein solle. Ganz plötzlich brauchte ich selbst ein Deo: Ich hatte, ohne es zu merken, in der Adresszeile nicht den Namen des Kollegen eingegeben, sondern den meines Vorgesetzten. Ein dummer Fehler! Bis heute wüsste ich gern, für wen das Geschenk damals tatsächlich bestimmt war. Vielleicht sollte ich ihm mal eine Mail schreiben.
Paul H*., 33, ist mittlerweile freier Journalist in Berlin.
Der Überfall
Wir waren zu acht an diesem Tag, ein langer Samstag im Winter. Einbrüche haben wir nur an solchen Tagen gemacht, da wird’s früher dunkel und die Kassen bleiben in den Geschäften. Einer hatte ein richtig großes Ding vorgeschlagen, einen Supermarkt. Okay, wir hatten schon viele Überfälle zusammen gemacht, in der siebten Klasse schon, Rütlischule eben, Kanakenklasse.
Damals waren wir 16, 17 Jahre alt und wussten genau, wie das geht: Wir haben auf dem Parkplatz vor dem Markt gewartet, bis das Licht in den Verkaufsräumen ausging, dann kommen die Angestellten raus. Dann sofort: »Überfall, Kasse her!«, das war bis dahin immer glattgelaufen. An diesem verdammten Tag aber wollte unbedingt einer der Angestellten den Helden spielen und stürmte auf einen von uns zu. Ich habe später oft überlegt, wie es gewesen wäre, wenn der auf mich zugerannt wäre – ich war bei Überfällen immer unbewaffnet. Aber so…
Ich schrei noch, was machst du denn, da rammt der ihm schon das Messer in den Bauch wie in eine Sahnetorte. Der Mann sackt zusammen, eine Frau wird ohnmächtig. Ich versuche, Tücher auf die Wunden zu pressen, während die anderen die Kasse holen, dann sind wir abgehauen. Die Leute denken ja, wenn du von der Straße kommst, kennst du keine Reue. Stimmt nicht. Ich bin selbst zweimal angeschossen worden, ich hab oft Mus gemacht aus Leuten, aber das hier war ein unbeteiligter Mensch. So was geht gegen die Ehre. Und ich bin Moslem, wir dürfen nicht töten.
Dann hörten wir, dass der Mann, Vater von zwei Kindern, im Koma liegt. Ein paar von uns sind in die Moschee gegangen und haben gebetet, dass er nicht stirbt. Die Polizei hat uns schnell gekriegt, weil in Neukölln alle Handys abgehört werden. Irgendjemand hatte über den Überfall geredet. Ich bekam drei Jahre, sechs Monate, wir wurden als »O. K.« eingestuft, organisierte Kriminalität.
Der Mann lag über ein Jahr im Koma, dann ist er wieder aufgewacht, aber es geht ihm nicht gut, er kann kaum sprechen, kaum laufen. Im Knast habe ich manchmal geträumt, dass er tot neben mir auf der Pritsche liegt. Vor der Gerichtsverhandlung wollte ich mich bei ihm entschuldigen. Aber er hat mich nicht mal angeschaut.
Sechs von uns sind danach ausgewiesen worden. Ich nicht, weil ich als kurdischer Libanese staatenlos bin. Aber was habe ich hier schon: keine Ausbildung, keine Arbeitserlaubnis, keine Aufenthaltsgenehmigung. Nur eine Duldung. Ich darf nicht mal heiraten. An diesem einen Tag habe ich nicht nur seine, sondern auch meine Zukunft zerstört.
Moshun P.*, 25, arbeitslos, lebt in Berlin.
*Name von der Redaktion geändert.
Foto: Getty Images; Protokolle: Marc Baumann, Simone Buchholz, Max Fellmann, Kerstin Greiner, Susanne Schneider