Das ist das Notfallset von Thorsden, 34, Bildhauer. Er leidet am Borderline-Syndrom. Das bedeutet, seine Gefühle laufen aus dem Ruder, er steht oft unter immenser Spannung. Früher hätte sich Thorsden in einem solchen Zustand selbst verletzt. Heute greift er in sein Notfallset und beißt in eine Chilischote.
Das Notfallset ist Teil der »Dialektisch-Behavioralen Therapie«, kurz DBT, die von der amerikanischen Psychologieprofessorin Mar-sha Linehan entwickelt wurde. Jeder Patient lernt, sein eigenes Notfallset zusammenzustellen, darum gleicht keines dem anderen. In jedem aber befinden sich Dinge, die starke Reize auslösen, und solche, die den Patienten beruhigen; sie helfen ihm, extreme Gefühle und Spannungen in kurzer Zeit zu mildern. Früher galt das Borderline-Syndrom als Krankheit im Grenzbereich zwischen Neurosen und Psychosen, daher der Name Borderline. Heute bezeichnet man es als eine Störung der emotionalen Steuerung. Borderliner können Symptome zeigen wie Depressionen, Essstörungen, Ängste, Zwänge. Häufig ist ein Kindheitstrauma der Auslöser: Missbrauch, Vernachlässigung, Ausgrenzung.
In Deutschland leiden etwa zwei Prozent der Bevölkerung an dieser Störung, seit zehn Jahren können sie in Spezialkliniken mit der DB-Therapie behandelt werden. »Oft können wir Patienten, die zuvor vier, fünf Medikamente brauchten und häufig lange in geschlossenen Anstalten waren, mit dieser Therapie schon nach drei Monaten in ein selbstbestimmtes Leben entlassen«, sagt Professor Martin Bohus vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Der Notfallkoffer sei wie ein Rettungsring für einen Nichtschwimmer, der in stürmisches Wasser gefallen ist – eine erste Hilfe .
Thorsden wohnt in einer WG, seine beiden Mitbewohner wundern sich nicht mehr, dass er ab und zu eine Chilischote aus seinem Notfallset zieht und abbeißt. »Sie wissen inzwischen, dass ich damit meine extremen Gefühle abschwäche. Das sieht manchmal absurd aus. Dann lachen wir zu dritt, und das tut gut.«
Chilis Schmerzreize helfen Thorsden, den Zustand extremer Spannung zu beenden: zum Beispiel durch den Biss in eine extrem scharfe Chilischote.
Sonnenbrille Schützt in einer schwierigen Situation nicht nur vor zu hellem Licht, sondern auch vor Blicken anderer.
Wasabi-Pulver Ähnlich wie Chili, doch wirkt der Reiz kürzer: Thorsden setzt es bei nicht ganz so hohen Spannungszuständen ein.
Fellpuschel Ein Erbstück von Thorsdens Oma. Berührungen auf der Haut sollen bei ihm gute Gefühle auslösen und eine schöne Atmosphäre schaffen.
Ammoniaklösung Thorsden sagt: "Der Geruch holt dich sofort ins Jetzt zurück." Im Gegensatz zu Chili oder Wasabi dauert die Wirkung nur sehr kurz.
Gummibänder Bei Krisen streift Thorsden die Bänder übers Handgelenk und schnippt sie auf die Haut: ein starker Reiz, der schlechte Gefühle mildern kann.
Foto aus glücklichen Zeiten Schöne Erinnerungen dienen als Gegengewicht zu den üblen Gedanken während Gefühlskrisen.
Tränentuch Thorsden sagt: "Man muss lernen, Tränen wichtig zu nehmen. Ich sammle sie in diesem Tuch."
Habanero-Pulver Das schärfste Gewürz der Welt. Bei extrem intensiven Gefühlen: "Dann ist erst mal Ruhe im Gehirn", meint Thorsden.
Kaugummis Die sich ständig wiederholende Bewegung hilft bei kleineren Spannungszuständen.
Liebevoller Brief Thorsden hat sich selbst diesen aufmunternden Brief geschrieben. Liest er ihn, wenn es ihm schlecht geht, löst der Inhalt positive Gefühle aus.
Kindheitserinnerung Ein Schneckenhaus aus dem Garten von Thorsdens Eltern. Erinnerung an glückliche Zeiten.
Coldpack Eine mit Gelee gefülllte Kompresse, die gekühlt auf den Kopf gelegt oder ungekühlt geknetet wird: zum Abbau von Stress.
Bleistift Auch schlechte Gedanken sollen notiert werden. Patient und Therapeut können die Notizen später diskutieren.
Notizzettel Ist die Krise vorüber, können die notierten Gedanken auch zusammengeknüllt und weggeworfen werden.
Ohrstöpsel Dienen – ähnlich wie die Sonnenbrille – zur Abschottung und Beruhigung.
Glaskiesel Legt man sich in die Schuhe: Der Druckreiz, der entsteht, hält lang an. Sie eignen sich gut fürs Büro, weil man sie nicht sieht.
Idee und Foto: Frederik Busch