Das Wunderkind

Tollwut gilt seit Jahrtausenden als tödliche Krankheit. Aber die achtjährige Precious Reynolds aus Kalifornien lebt. Denn ein Arzt hatte eine Idee.

Totgesagte leben länger Precious Reynolds, hier mit ihrer Hausente vor der elterlichen Farm, überlebte eine eigentlich tödliche Tollwutinfektion.

Precious Reynolds, acht Jahre alt, schmal, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden, hüpft vom Aufzug zur Pforte der Kinder-Intensivstation. Sie zappelt herum, während sie darauf wartet, dort eingelassen zu werden, wo sie – ginge es nach den Erkenntnissen aus 2000 Jahren Medizingeschichte – hätte sterben müssen. Neun Monate zuvor hat sie hier am UC Davis Medical Center in Sacramento, Kalifornien, einen Anfall von Tollwut überlebt – und damit eine Krankheit besiegt, die bisher als zu hundert Prozent tödlich galt.

In der Kinderstation wird sie von den Krankenschwestern wie ein kleines Wunder begrüßt. Precious kann sich zwar nicht mehr an alle erinnern, wechselt aber mit jeder ein paar Worte, erzählt von zu Hause. Wie vor ihrem Anfall lebt sie mit ihren Geschwistern und Großeltern auf einer Farm in Willow Creek, mitten in der Wildnis von Humboldt County in Kalifornien. Auf der langen Zufahrtsstraße zur Farm läuft sie ihre Trainingsrunden, um für die Ringersaison in der Kinderliga fit zu werden. Sie macht auch schon wieder beim »Hammelreiten« mit: Ähnlich wie beim Rodeo versuchen sich Kinder dabei so lange wie möglich auf dem Rücken bockender Schafe zu halten; vor Kurzem hat Precious den dritten Platz belegt und 23 Dollar Preisgeld eingestrichen.

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Ihre Begegnung mit dem Tod begann mit einer grippeähnlichen Erkrankung, die von seltsamen Symptomen begleitet wurde: Kopf- und Nackenschmerzen, Schwäche in den Beinen. Im örtlichen Krankenhaus brachte ihr eine Schwester etwas zu trinken, doch sie konnte die Flüssigkeit nicht schlucken, fast erstickte sie daran. Die Symptome wurden so heftig, dass das Mädchen per Hubschrauber in das Universitätskrankenhaus von Sacramento gebracht wurde. Als das kalifornische Gesundheitsamt von ihrem Zustand erfuhr und davon, dass die Patientin aus dem ländlichen Humboldt County stammte, kam der Verdacht von Tollwut auf. Die Labortests bestätigten die Diagnose: In Precious’ Blutserum und Rückenmarksflüssigkeit fanden sich Antikörper – was nur die Folge einer Impfung oder einer Infektion sein kann. Und tatsächlich, ein paar Wochen zuvor war sie beim Spielen vor ihrer Schule von einer verwilderten Katze gebissen worden. Damals hatte niemand an eine Behandlung gegen Tollwut gedacht, und nun war es zu spät für die übliche Gegenmaßnahme – mehrere Impfungen über zwei Wochen hinweg, um dem Körper Zeit zu einer Immunreaktion zu geben, bevor das Virus das Gehirn erreicht. In Precious’ Fall war klar, dass ihr Gehirn bereits befallen war.

Noch vor einem Jahrzehnt gab es keinen anderen Weg, als solchen Patienten zumindest das Sterben zu erleichtern: Man hätte mit Beruhigungs- und Schmerzmitteln versucht, die Leidensphase etwas erträglicher zu machen. Ohne Behandlung ist Tollwut schon für Beobachter kaum auszuhalten, ganz zu schweigen von denjenigen, die davon befallen sind. Die Schluckbeschwerden, auch Hydrophobie genannt, sorgen dafür, dass sich der Körper des Patienten gegen jede Flüssigkeit wehrt, die man ihm einflößen möchte, selbst wenn er fast am Verdursten ist. Es folgen Fieberanfälle, heftige Krämpfe, plötzliche Aggressionsschübe. Die Schmerzensschreie aus den verkrampften Kehlen der Opfer sind schier unerträglich, sie klingen wie tierisches Gebell. Am Ende setzt der Teil des Gehirns aus, der die vegetativen Funktionen wie Atmung und Blutkreislauf steuert. Die Folge: Entweder ersticken die Patienten oder sie sterben an einem Herzstillstand.

So war es bislang, unweigerlich. Doch inzwischen können Krankenhäuser eine Behandlung zumindest versuchen. Entwickelt hat sie der Kinderarzt Rodney Willoughby aus Milwaukee, der im Jahr 2004 mit einer 15-jährigen Tollwutpatientin konfrontiert wurde. Wie die meisten Ärzte in den USA hatte Willoughby zuvor noch nie mit Tollwut zu tun gehabt. Trotzdem konnte er dem Mädchen mit einer ganz einfachen Idee das Leben retten: Mithilfe von Medikamenten wurde die Patientin eine Woche lang in ein tiefes Koma versetzt und schließlich behutsam wieder zurückgeholt.

Es war der erste dokumentierte Fall, in dem ein Mensch eine Infizierung mit Tollwut überlebte, ohne vor Auftreten der Symptome geimpft worden zu sein. Willoughby stellte seine Behandlungsmethode ins Internet, machte in Zusammenarbeit mit Krankenhäusern auf der ganzen Welt ihren Einsatz wiederholbar und entwickelte sie weiter. Sein sogenanntes Milwaukee-Protokoll zeigt einen, wenn auch begrenzten, Erfolg: Bei weltweit 41 Behandlungsversuchen haben fünf weitere Patienten überlebt. Eine davon ist Precious.

Müsste man für einen Film einen genialen Arzt besetzen, der sich gegen alle medizinischen Konventionen stellt, käme man kaum auf einen wie Rodney Willoughby, 57, untersetzt, gemütlich im Auftreten, bedächtig in der Wortwahl. Der Spezialist für ansteckende Krankheiten am Children’s Hospital of Wisconsin war zuerst skeptisch, als im Oktober 2004 eine Patientin mit Tollwut-Symptomen in seine Obhut übergeben wurde: »Ich hatte so meine Zweifel, dass es sich wirklich um Tollwut handeln könnte. Das kommt einfach nicht vor!«

Die Patientin Jeanna Giese, 15, Schülerin und Sportlerin, litt an Erschöpfung, Erbrechen, Seh-, Sprach- und unspezifischen Koordinationsstörungen. Bei ihr war die mögliche Quelle einer Tollwutinfektion klar: Vier Wochen zuvor war sie in ihrer Gemeindekirche von einer Fledermaus gebissen worden, die sie vom Boden des Altarraums aufgehoben hatte. Trotzdem schien für Willoughby zunächst eine andere Form von viraler Gehirnentzündung oder eine Autoimmunkrankheit im Gehirn die wahrscheinlichere Erklärung für ihre Beschwerden zu sein. Doch um Tollwut auszuschließen, ließ er binnen Stunden Blut- und Rückenmarksproben von Jeanna an die Centers for Disease Control in Atlanta (CDC) schicken, die US-amerikanische Seuchenschutzbehörde.

Obwohl Spezialist für Infektionskrankheiten, wusste Willoughby fast nichts über Tollwut: »Fürs Examen musste man nur eines lernen: dass sie zu hundert Prozent tödlich ist.« Telefonisch erkundigte er sich bei den CDC, ob irgendwo an einer Heilbehandlung geforscht wurde – eine vielversprechende neue Therapie vielleicht, die bislang noch in keinem Ärztejournal veröffentlicht wurde. Die Behörde konnte nicht weiterhelfen. Willoughby blieb nur ein knapper Tag zur Ausarbeitung eines Plans, also verschaffte er sich durch Querlesen einen Überblick über die neurowissenschaftlichen Grundlagen der Tollwut. Am zweiten Tag von Jeannas Krankenhausaufenthalt in Milwaukee kam das Ergebnis der CDC: In ihrem Blutserum und in der Rückenmarksflüssigkeit befanden sich Antikörper gegen Tollwut. Eine Stunde später trafen sich ihre Ärzte, um das weitere Vorgehen zu besprechen.

»Das Schlimmste, was passieren kann«

Jeanna Giese überlebte 2004 eine Tollwut-Infektion - der erste dokumentierte Fall einer ungeimpften Überlebenden. Der Hund ihres Vaters, mit dem sie hier spielt, hatte mit ihrer Erkrankung übrigens nichts zu tun, Jeanna war von einer Fledermaus gebissen worden.

Willoughby schlug seinen Kollegen eine letzte, verzweifelte Idee vor. Die Lösung lag eigentlich »ganz offen auf der Hand«, sagt er im Nachhinein. In der Fachliteratur hatte er Hinweise darauf gefunden – obwohl die Forschungsergebnisse in dieser Hinsicht alles andere als eindeutig sind –, dass bei Tollwut der Tod nicht wie bei den meisten anderen Formen viraler Enzephalitis durch die Zerstörung von Nervenzellen oder durch eine Entzündung im Gehirn eintritt. Stattdessen werde hauptsächlich die Neurotransmission angegriffen, also die elektrochemische Kommunikation, die zwischen den Zellen im zentralen Nervensystem abläuft. Die sogenannte Exzitotoxizität überlastet das Gehirn, was dazu führt, dass die Zellen ihre eigene Energieversorgung plündern, bis sie schließlich absterben.

Willoughby wusste auch, dass das menschliche Immunsystem Abwehrmaßnahmen gegen die Tollwut aufbaut, die im Prinzip den Infekt bekämpfen könnten. Damit war seiner Logik zufolge der Kampf gegen die Tollwut ein Kampf gegen die Zeit: Anscheinend griff die Tollwut das Gehirn nicht direkt an, sondern veranlasste es dazu, den Körper zu zerstören, bevor dieser Zeit hätte, sich gegen die Tollwut zu wehren. Willoughby stellte seinen Kollegen im Kinderkrankenhaus von Wisconsin die Frage: Was wäre, wenn sie Jeanna in ein künstliches Koma versetzten? Eine Unterdrückung der Gehirntätigkeit bei gleichzeitiger Kontrolle ihrer Lebensfunktionen könnte ihrem Immunsystem die nötige Zeit geben.

Seine Kollegen hätten die Idee auch ablehnen können: »Bei auch nur einer Gegenstimme hätten wir es gelassen – denn die Idee war so simpel, dass sie eigentlich falsch sein musste. Sie war viel zu offensichtlich. Irgendjemand musste das doch schon ausprobiert haben. Aber es gab keine Gegenstimme.«

Mit Einwilligung ihrer Eltern versetzte Willoughby Jeanna in ein künstliches Koma. Eine Infusion mit Ketamin, einem kreislaufstabilisierenden Anästhetikum, hielt sie bewusstlos. Für Ketamin sprach außerdem, dass es in einer Studie aus dem Jahr 1992 bei tollwutinfizierten Ratten eine virenhemmende Wirkung gezeigt hatte. Willoughby verstärkte die Wirkung des Ketamins durch die Verabreichung eines weiteren antiviralen Mittels, Amantadin, und durch das Betäubungsmittel Midazolam; außerdem gab er dem Mädchen starke Beruhigungsmittel. Am dritten Tag ergänzte Willoughby auf Empfehlung der CDC noch Ribavirin, einen Breitband-Arzneistoff, der häufig zur Behandlung von Hepatitis C eingesetzt wird. Nach sieben Tagen war in Jeannas Blutserum und Rückenmarksflüssigkeit ein deutlicher Anstieg an Antikörpern zu verzeichnen: Wie von Willoughby erhofft, begann ihr Körper sich zu wehren.

Nun setzten die Ärzte die Medikamente allmählich wieder ab, Jeanna kam wieder zu Bewusstsein. Doch bei der ersten Untersuchung zeigte sie keine Reflexe, ihre Gliedmaßen lagen schlaff und regungslos auf dem Bett; lediglich ihre Pupillen reagierten stärker auf Lichteinfluss als in der Koma-Woche. Willoughby quälte die Vorstellung, er könnte ein Locked-in-Syndrom ausgelöst haben. Dabei ist ein Patient zwar bei Bewusstsein, kann aber weder kommunizieren noch sonst eine physische Reaktion zeigen: »Das ist das Schlimmste, was passieren kann.«

Doch Jeannas stetige Fortschritte vertrieben diese Befürchtung allmählich. Vier Tage nach Absetzung der Narkosemittel reagierte ihr Unterschenkel auf Willoughbys Reflexhammer. Zwei Tage später konnte sie ihre Augen bewegen. Wieder zwei Tage später hob sie die Augenbrauen, wenn man sie ansprach.

Doch es sollte noch Wochen dauern, bis selbst einfache Bewegungen wieder möglich waren. Nur sehr langsam bekam Jeanna ihren Körper wieder in den Griff. Gestik, Mienenspiel, Schlucken und Sprechen – sie musste alles neu lernen. Nach einem Monat medizinischer Isolation konnte sie eine intensive stationäre Therapie beginnen, die noch weitere Wochen andauern sollte.

Am 1. Januar 2005 konnte Jeanna das Krankenhaus verlassen und in ihr Zuhause in Fond du Lac, Wisconsin, zurückkehren. Vor ihr lag eine monatelange Physiotherapie, in der sie alle grundlegenden Fähigkeiten wiedererlernen musste: erst stehen, dann gehen, schließlich laufen. Mit Erfolg: Nach einem Jahr Reha waren nur ein leichtes Nuscheln und ein gelegentliches Stottern geblieben. Im Frühjahr 2011 schaffte sie als erstes Mitglied ihrer Familie den College-Abschluss.

Tollwut überlebt man nicht: So lautete das endgültige Urteil der Medizin, und das nicht nur in Rodney Willoughbys Examensprüfung, sondern bereits in medizinischen Aufsätzen, die aus dem ersten Jahrhundert nach Christus stammen. »Die Krankheit ist ebenso akut wie unablässig«, schrieb der griechische Mediziner Soranos von Ephesus. Sushruta, ein legendärer Chirurg im alten Indien, sprach in seiner eigenen Beschreibung von Hydrophobie von einer Sterberate von hundert Prozent: »Wenn ein solcher Patient beim Anblick von Wasser oder wenn nur das Wort Wasser erwähnt wird, übermä-ßige Furcht an den Tag legt, so liegt die Vermutung nahe, dass er an Jalatrása leidet« – wörtlich: Wasser-Scheu – »und dem Untergang geweiht ist.«

Zwar hat die Tollwut zu keiner Zeit riesige Opferzahlen verursacht, doch löste sie jahrhundertelang geradezu hysterische Furcht aus. Das mag auch an dem fast übernatürlichen Wahn liegen, der ihre Opfer kurz vor dem Tod packen kann. In einem Brief an die Londoner Times aus dem Jahr 1830, als die Stadt von tollwütigen Hunden geplagt wurde, schreibt ein Leser: »Wer unter uns kann am Morgen seine Heimstatt verlassen und sicher sein, dass er nicht ein paar Stunden später in einem Zustand zurückkehren könnte, der ihn herabwürdigt zur Verzweiflung und Raserei eines Dämons, von denen er nur durch einen schrecklichen Tod Erlösung findet?« In London und Paris organisierten Bürger groß angelegte »Hundemassaker«, um gegen die verwilderten Hunde vorzugehen, die diese Krankheit vermeintlich übertrugen.

Die übertriebene Furcht vor Tollwut war ein Grund, weshalb Louis Pasteur, der bereits Impfstoffe gegen die Tierkrankheiten Hühnercholera und Rindermilzbrand entwickelt hatte, sich ihr als erster menschlicher Krankheit widmete. Als Pasteur 1885 seinen Impfstoff entwickelt hatte, erlangte er sofort weltweite Berühmtheit. Auch außerhalb Frankreichs wurde er dafür mit Lob überhäuft – eine Reaktion, die seine früheren und ebenso beeindruckenden Leistungen, darunter die nach ihm benannte Pasteurisierung, nicht hervorgerufen hatten. Pasteurs Tollwutserum – das aufgrund der langen Latenzzeit zwischen Biss und tatsächlicher Infektion des Gehirns noch Tage später verabreicht werden konnte – verwandelte ein tödliches Virus in eine behandelbare Krankheit.

Die weitere Verbesserung des Serums hat die Zahl der tödlichen Tollwutfälle in Industrieländern auf nahezu null reduziert. In Entwicklungsländern fordert die Krankheit zwar immer noch viele Todesopfer: jährlich 55 000 nach der jüngsten Schätzung der Weltgesundheitsorganisation. Doch in der Forschung wie auch im Gesundheitswesen trat die Entschlüsselung des Erregers in den Hintergrund – auch weil als sicher galt, dass Tollwut unheilbar ist. Es schien sinnvoller, sich bei Menschen und Hunden, die gebissen wurden, ausschließlich auf die Schutzimpfung zu konzentrieren.

Tollwut in Deutschland

Der Kinderarzt Rodney Willoughby aus Milwaukee entwickelte die neue Behandlungsmethode, die als »Milwaukee-Protokoll« bekannt wurde.

Die Sterblichkeitsrate von hundert Prozent hat die Ärzteschaft seit jeher dazu bewogen, alle Todeskandidaten in gleicher Weise zu betrachten. Dabei ist jede Infektion anders, was – zumindest in der Theorie – einigen Patienten eine höhere Überlebenschance einräumen könnte. Mancher Biss eines Tieres überträgt nur eine geringe Dosis des Erregers; Bisse im Gesicht sind gefährlicher als Bisse am Fuß oder Bein, da der Erreger das Gehirn schneller erreicht. Manche Patienten zeigen sofort eine Immunreaktion, andere nicht. Am wichtigsten allerdings ist die Erkenntnis, dass sich inzwischen verschiedene Tollwutvarianten in den unterschiedlichen Wirtstieren verbreitet haben; so löst zum Beispiel der Biss einer Fledermaus, eines Stinktieres oder eines Hundes jeweils eine andere Art von Infektion aus.

Rodney Willoughby rettete gegen jede Erwartung und jede Erfahrung mit einer neuartigen Form der Tollwutbehandlung seiner Patientin das Leben. Manche der weltweit führenden Tollwutexperten vermuten allerdings etwas anderes. Sie bestreiten nicht, dass Jeanna und Precious an Tollwut litten. Aber sie weigern sich anzuerkennen, dass das Milwaukee-Protokoll die beiden Mädchen und die anderen vier Überlebenden geheilt hat. Stattdessen behaupten sie, dass es im Lauf der Geschichte immer wieder Menschen gab, die Tollwut überlebt haben.

Kritiker des Milwaukee-Protokolls wie die Tollwut-Experten Henry Wilde und Thiravat Hemachudha vom medizinischen Institut der Chulalongkorn Universität in Bangkok vermuten: Willoughby ist auf eine neue Art und Weise der Tollwutbehandlung gestoßen und hatte dann das große Glück – oder Unglück –, es an einem der extrem seltenen Patienten zu testen, die auch ohne jede Behandlung überlebt hätten.

Die Überlebensrate des Milwaukee-Protokolls ist äußerst beeindruckend, wenn man sie am deprimierenden Vergleichswert »null« misst, auf den Jahrtausende der Medizin-geschichte zurückblicken können. Doch was, wenn nun ein Bruchteil der Patienten tatsächlich schon immer überlebt hat? Zu den vermeintlichen Tollwut-Überlebenden zählen: eine Deutsche im Jahr 1875, ein italienischer Teenager im Jahr 1912, ein 73-jähriger Amerikaner im Jahr 1913, eine Brasilianerin im Jahr 1968 – bei allen diagnostizierten Ärzte Tollwut, und alle überlebten, obwohl sie kein Serum erhielten. Das Problem bei diesen Fällen ist allerdings: Es ist nicht sicher, dass diese Patienten, an heutigen Standards gemessen, tatsächlich an Tollwut litten.

Doch Henry Wilde beharrt: »Es gibt Überlebende. 14 Prozent der Hunde überleben. Fledermäuse überleben.« Wenn die Tollwut nicht hundert Prozent Todesopfer unter den Tieren fordert und wenn keine andere menschliche Krankheit hundert Prozent der Betroffenen tötet, sollte es uns dann wirklich wundern, dass einige Tollwutfälle unter Menschen sich als nicht tödlich erweisen?

Um seine Kritiker zu widerlegen, hofft Willoughby sein Protokoll in Tierversuchen simulieren zu können, aber weder er noch sonst jemand hat bislang die nötigen Forschungen durchgeführt. Bis dahin wünschen sich Willoughbys Kritiker einen Antikörpertest, der gleich im Krankenhaus durchführbar ist, am Bett des Patienten. Wenn die Ärzte in den Entwicklungsländern herausfinden könnten, welche Patienten eine schnelle Immunreaktion auf die Tollwut zeigen, könnten sie die Intensivbehandlung weiterentwickeln und so möglicherweise mehr Menschenleben retten. Willoughbys Kritiker sind überzeugt, dass diese Behandlung dann dem Milwaukee-Protokoll nicht im Geringsten ähneln würde.

Die wissenschaftliche Kontroverse zeigt vor allem, wie wenig wir über vernachlässigte Krankheiten wie Tollwut wissen, die weltweit immer noch viele Opfer fordern, deren Zahl aber nicht hoch genug ist, um hohe Summen an Forschungsgeldern zu generieren. Was bleibt, sind bei allem medizinischen Fortschritt mutige Versuche wie die von Willoughby, Vermutungen – und am Ende neue Fragen. Denn jeder neue Fall ist so eigen, dass er das ganze Konstrukt wieder zum Einsturz bringen kann.

Wilde und Hemachudha verweisen auf das rätselhafteste Beispiel in jüngster Zeit, eine geheimnisvolle Patientin, der Gesundheitsbeamte den Namen »Texas Wild Child« gegeben haben. Im Februar 2009 tauchte eine 17-jährige Ausreißerin aus Missouri in einem Krankenhaus in Texas auf und klagte über schwere Kopfschmerzen, Lichtempfindlichkeit, Nackenschmerzen, Schwindelanfälle und ein Kribbeln in Gesicht und Armen. Nach drei Tagen waren die Symptome des Mädchens abgeklungen, man schickte sie nach Hause. Doch kurze Zeit später kehrten die Kopfschmerzen noch heftiger zurück, und sie suchte die Notaufnahme eines anderen Krankenhauses auf.

Auf Nachfrage der Ärzte erinnerte sich das Mädchen, zwei Monate zuvor in einer Höhle in einen Schwarm Fledermäuse geraten zu sein. Sie hatte danach weder Kratzer noch Bisswunden bemerkt – doch Fledermausbisse sind oft so zart, dass sie einem Opfer nicht immer auffallen. Wie bei Precious und Jeanna wiesen die Blutproben des Mädchens Tollwut-Antikörper auf, doch ihre Symptome verschlimmerten sich nie so sehr, dass eine intensive Behandlung nötig wurde.

Nach zwei Wochen wurde das Mädchen entlassen, bald darauf war sie verschwunden. Ihre bemerkenswerte Genesung macht sie zum ersten Menschen, der jemals die Tollwut überlebte, ohne intensiv behandelt worden zu sein. Aber sie ist unauffindbar.

TOLLWUT IN DEUTSCHLAND

Der letzte Tollwutfall bei einem Menschen wurde 2007 gemeldet. Damals war ein Mann im Urlaub in Marokko von einem Hund gebissen worden, er starb einige Wochen später in Hamburg. Deutschland gilt seit September 2008 als frei von terrestrischer Tollwut. Das heißt: Heimische Tiere, die auf dem Boden leben, übertragen keine Tollwut mehr. Gefahr geht nur noch von illegal aus Tollwut-Endemiegebieten eingeführten Tieren sowie von Fledermäusen aus. 2012 gab es 13 Fälle von Fledermaustollwut, davon sieben in Berlin, zwei in Sachsen und je einen im Saarland, in Niedersachsen, Bremen und Schleswig-Holstein.

Fotos: Lucas Foglia