Ganz Ohr

Unser Autor hatte sich schon daran gewöhnt, kaum etwas zu hören – doch dann eröffneten sich dank eines Corona-bedingten Zufalls plötzlich Welten. 

Die ersten Hörrohre sind aus dem 17. Jahrhundert bekannt. Etwas unhandlich, aber immerhin kamen auch sie ohne Kabel aus.

Natürlich begann alles mit Corona. Beim Abnehmen der Maske verlor ich mein linkes Hörgerät. Und fand es nie wieder. Shit happens, aber ich hatte ja noch mein rechtes und passte auf das nun gut auf. Die Schlaufen der Atemmasken befestigte ich nur noch am linken, jetzt hörgerätelosen Ohr, und rechts hielt ich die Maske mit der Hand. So macht Einkaufen noch weniger Spaß. Und alles andere auch. Fernsehen brachte mir selbst mit beiden der alten Hörgeräte erst ab Lautstärke 70 einen Zugewinn, meiner Freundin ist bereits 30 zu laut. Der Hörgeräteindustrie ist das nicht anzulasten. Meine Geräte waren zehn Jahre alt. Also uralt, prähistorisch meinetwegen. Das sagten alle, die schon die neuen hatten, und die Mitarbeiter der Hörgeräte-Fachgeschäfte sagten das Gleiche, auch gern ungefragt: »Was Sie da tragen, gehört ins Museum, aber nicht in Ihr Ohr.«

Um es kurz zu machen: Ich sah in dem Corona-bedingten Hörgeräteverlust die Chance auf einen Gewinn an Lebensqualität und probierte nun endlich die neue Generation aus. Vorher musste ich allerdings beim Arzt um einen neuen Hörtest-Termin anfragen, denn der letzte lag zehn Jahre zurück. Um es noch mal kurz zu machen: Ich verließ die Praxis als temporär gebrochener Mann. Rechts hörte ich unverstärkt nur sieben und links nur noch drei Prozent von dem, was die Welt den Ohren zu bieten hat. Beethoven kannte das. Das Ende naht.

Aber auch das Ende der schlechten Nachrichten. Seit ­einer Woche bescheren mir die High-Tech-Wunder der Gegenwart wieder sensationelle 60 Prozent Hörfähigkeit, und was soll ich sagen? Es fühlt sich wie 100 Prozent an, oft auch wie 120. Bei Gesprächen mit einem leibhaftigen Gegenüber muss ich niemanden mehr mit Lippenlesen belästigen und trotzdem das Gesagte wie ein Kreuzworträtsel abhandeln, also Lücken füllen, mit Logik und Vermutungen. Das ist vorbei. Ich verstehe mühelos und maximal entspannt jedes Wort, das an mich herangetragen wird, und das lohnt sich nicht immer, ist aber selbst dann 100 Mal besser, als mit Schwerstarbeit zu denselben Ergebnissen zu kommen.

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Und die neuen Geräte sind via Bluetooth mit allem verbunden, was ich brauche. Mit Smartphone, WhatsApp, FaceTime, Youtube, Netflix. Weil selbst die Lautsprecher des Fernsehers jetzt quasi direkt in meinen Ohren stecken, habe auch ich mittlerweile die Ära des Stummfilms verlassen. An den ersten beiden Staffeln Haus des Geldes erfreute ich mich noch mit den alten Geräten, Staffel drei und vier hörte ich schon mit den neuen. Und wollte danach am liebsten mit der Serie wieder von vorne beginnen. Denn es macht durchaus einen Unterschied, bei ­Filmen nicht nur die Schusswechsel, sondern auch die Dialoge mitzukriegen.

»Der Kollateralschaden der Maskenpflicht hat mir nicht nur ein zu altes Hörgerät genommen, sondern auch noch zwei neue bezahlt«

Der wahre Wahnsinn aber liegt in der wiedergewonnenen Fähigkeit zu telefonieren. Das ging mit meinen Steinzeitmodellen nicht, weil sie rückkoppelten, wenn ich das Handy ans Ohr hielt. Ich musste sie rauspflücken und unverstärkt kommunizieren, was dazu führte, dass ich es immer weniger tat und mich sogar davor zu fürchten begann. Denn die Geduld am anderen Ende der Leitung erwies sich selten als unerschöpflich. Nach dem dritten, spätestens nach dem vierten »Äh … was haben Sie gesagt?« gaben sie auf. Ich auch. Ich verlagerte deshalb meine private wie geschäftliche Kommunikation auf E-Mail. Das ist nur halb ideal. Denn erstens fehlt dabei die unmittelbare Reaktion des Angeschriebenen, und zweitens transportiert über die nackten Informationen hinaus auch die Stimme an sich eine Botschaft. Ist sie warm, ist sie kalt, ist sie unsicher oder souverän, klingt sie verlogen oder seriös? Eine Mail ist leicht zu verstehen, aber nur die Stimme verrät, wie glaubhaft das Verstandene ist.

Meine neuen Hörgeräte funktionieren aber nicht nur wie ein Bullshit-Radar, dank Bluetooth geben sie mir auch die Hand-, Bein- und Fußfreiheit zurück. Das kennt jeder moderne Mensch, der mit kabellosen Kopfhörern telefoniert. Ich bin jetzt noch einen Schritt krasser modern, weil ich sie nicht mal mehr auf- oder abnehmen muss. Sie sind ein Körperteil geworden. Cyborg-Ohren. Und das Beste wie immer zum Schluss: Sie kosten fast 6000 Euro, und fast genauso viel traf fast gleichzeitig mit ihrer Anschaffung aus dem Corona-Überbrückungs-Fonds für Selbstständige auf meinem Konto ein. Das heißt, der Kollateralschaden der Maskenpflicht hat mir nicht nur ein zu altes Hörgerät genommen, sondern auch noch zwei neue bezahlt.