Bemerkenswert ist, dass die Auseinandersetzung immer gleich unsachlich, sogar demagogisch geführt wird. Wenn man wagt, nach einer Stunde Konferenz oder so ein Fenster zu öffnen, sagt garantiert jemand: »Ah, noch so ein Frischluftfanatiker.« Es gibt kein anderes Wort für jemanden, der Luftaustausch schätzt, niemand würde sagen »Ah, ein Kohlendioxid-Gegner, nun gut« oder »Ah, du magst Luft, schöne Sache«, stattdessen immer gleich: Fanatiker. Als gehöre man zu einer internationalen Verschwörung von Querlüftungsfundamentalisten, die durch wahlloses Aufreißen von Fenstern die herrschende Ordnung wegpusten wollen. Man will doch nur atmen!
So gut wie niemand gibt sich als Freund schlechter Luft zu erkennen. Mit vielleicht einer einzigen halbwegs verbürgten historischen Ausnahme: Man sagt, dass der englische Schriftsteller George Orwell sich so sehr gegen das Lüften seiner Schreibstube auf der Insel Jura wehrte, dass seine Schwester meinte, sein Zimmer sei »sakrostinkt«. So, als könne sein Werk nur in einer ganz bestimmten Abluftmischung aus türkischem Tabak, abgetragenem Tweed und schottischem Torfofen entstehen; kein Wunder, dass es sich dabei um 1984 handelte, sein düsterstes Buch.
Die Feinde der Frischluft aber nennen sich nicht Miefanhänger, sondern tun so, als würden sie sich und die anderen Rauminsassen gegen andere Übel schützen wollen: Zugluft, Straßenlärm, Energieverschwendung und vor allem Kälte. Am schlimmsten war es damals an der Uni: enge Räume, überlange Referate, zu viele Leute aus zu klammen Wohnungen mit zu wenig Duschen und so weiter. Von wegen: »unter den Talaren«, nee, ein paar Jahrzehnte nach 1968 hing der Muff von tausend Jahren einfach in den Hörsälen. Und immer, wenn jemand frische Luft reinließ, gab es ein Protestgeheul, als hätten die Amis das Fenster bombardiert, mündend in den Ewigkeitssatz: »Es sind schon viele erfroren, aber es ist noch keiner erstunken!«
Das stimmt nicht so ganz. Wir erstinken nämlich langsam und merken es nicht. Wir müssen mehr lüften, denn wir lüften nicht genug. Dabei ist Lüften fantastisch. Die Großmutter pflegte zu sagen: »Off’nes Fenster Tag und Nacht, hat manchem schon viel Heil gebracht.« Inzwischen heißt es: Das ist hier energieeffizient gebaut, lass mal die Fenster zu, ich heiz doch nicht den Vorgarten.
Weil immer luftdichter gebaut wird, sitzen wir in immer schlechterer Luft. Eine Studie des Schornsteinfegerhandwerks ergab vor ein paar Jahren, dass ein Viertel bis ein Drittel aller deutschen Wohnungen schon einmal Feuchtigkeitsprobleme hatte; eine andere Studie, voriges Jahr von der Humboldt-Universität für den dänischen Fensterhersteller Velux erstellt, sagt sogar, dass rund vierzig Prozent der deutschen Haushalte schon einmal einen Schimmelschaden hatten. Feuchtigkeit verursacht Schimmel, beides sind Anzeichen schlechter Luft, also schlechten Lüftens. »In der Tat wird heute zu wenig gelüftet«, sagt der Ingenieur Heinz-Jörn Moriske vom Umweltbundesamt in Berlin, »gerade auch von Bewohnern in energetisch sanierten Gebäuden oder in neuen energieeffizienten Häusern, die dichte Fenster haben. Früher hatte man durch Undichtigkeiten der Fenster oder der Bauweise immer einen gewissen Lüftungseffekt, die sogenannte Fugenlüftung. Das wollen wir natürlich nicht mehr, aber hygienisch hatte es Vorteile.« Seitdem 2002 die deutsche Energieeinsparverordnung in Kraft getreten und immer wieder verschärft worden ist, ist also der Heizbedarf zwar gesunken, aber wir sitzen dafür im Mief.
Mindestens zweimal am Tag für zehn Minuten die Fenster sperrangelweit aufmachen.
Mief ist eine wilde Mischung. Das, was wir als »dicke Luft« wahrnehmen, besteht zum Teil aus Feuchtigkeit. Ein Vier-Personen-Haushalt gibt am Tag zehn bis 14 Liter verdunstetes oder verdampftes Wasser an die Raumluft ab: Wenn man zehn Minuten duscht, ist das schon ein viertel bis ein halber Liter. Beim Kochen bis zu fast ein Liter pro Stunde. Und der Mensch, der einfach nur da ist oder irgendwas macht, dünstet innerhalb von acht Stunden zwischen einem Viertelliter und anderthalb Litern Flüssigkeit aus. Hinzu kommt das Kohlendioxid, das wir ausatmen. »Kohlendioxid können Sie nicht sehen und nicht riechen«, sagt Heinz-Jörn Moriske vom Umweltbundesamt, »aber Sie merken die steigende Konzentration daran, dass Ihre eigene Konzentration nachlässt.«
Am unangenehmsten schließlich ist die dritte Komponente des Miefs. Nein, nicht alter Hund oder Lord Extra, sondern: »Vielen ist gar nicht bewusst, welche Schadstoffanreicherung in der Raumluft durch mangelndes Lüften entstehen kann«, sagt der Ingenieur. »Die Emissionen aus Baumaterialien und Möbeln sind heute in luftdichten Gebäuden viel gravierender als früher in Wohnungen mit Fugenundichte.« Wenn Leute ihn im Umweltbundesamt anrufen und darüber klagen, dass sie nicht lüften können, weil sie an einer verkehrsreichen Straße wohnen und um ihre Gesundheit fürchten, sagt Moriske ihnen deshalb: »Lüften Sie trotzdem, denn das, was sich in Ihrer Wohnung an Schadstoffen sammelt, wenn Sie nicht lüften, ist sehr viel gefährlicher als das, was von der Hauptverkehrsstraße in Ihr Zimmer kommt, wenn Sie zehn Minuten am Tag lüften.«
Lasst uns also lüften. Aber wie? Einigen wir uns erst mal darauf, dass wir, wie die Architekten sagen, über »freie Lüftung« reden. Das klingt schön und ein bisschen salbungsvoll, als hätte der Herr Bundespräsident den Ausdruck geprägt. Freie Lüftung heißt: ohne Hilfsenergie, auf natürliche Weise. Indem die miese Raumluft entweder durch Winddruck oder Temperaturunterschied mit der frischen Außenluft getauscht wird. Und jetzt ein für alle Mal: Fenster kippen reicht nicht, das schafft nichts weg, das ist echt nur Vorgartenheizen. Weil die schräg nach oben entweichende warme Luft eine Barriere bildet und die frische Luft nicht reinlässt. Das Nonplusultra in der Welt des Lüftens ist und bleibt die Stoßlüftung. Also: mindestens zweimal am Tag für zehn Minuten die Fenster sperrangelweit aufmachen. Und wenn es geht, in der ganzen Wohnung zugleich, und die Innentüren auch geöffnet, damit es zur Querlüftung kommen kann, die ist sozusagen das Upgrade der Stoßlüftung. Ach ja, und je wärmer es draußen wird, desto länger muss man stoßlüften, weil der Luftaustausch länger braucht, je geringer der Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen ist – niemand hat gesagt, dass es leicht sein würde.
Aber es ist herrlich. Das eine ist die Qualität der frischen Luft an sich. Über frische Luft gibt es ja viele Scherze, weil Luft so was Simples und an sich leicht Verfügbares ist: Der Schotte bietet im Witz seinen Besuchern eine Erfrischung an und öffnet dann das Fenster, oder die alte Spinnfrage, wie Luft heißen würde, wenn Ikea sie verkaufte. Dieses wichtige, aber scheinbar banale Zeug wird aber zum Beispiel in der Medizin außerordentlich ernst genommen: Der New Scientist schrieb vor Kurzem, dass bestimmte Stoffe in der Frischluft Bakterien zerstören und Lüften deshalb möglicherweise eine entscheidende Rolle in der Bewältigung der Antibiotika-Krise spielen kann: Gegen Medikamente werden Bakterien resistent, aber nicht gegen frische Luft. Die britische Mikrobiologin Stephanie Dancer sagt deshalb: »Die Krankenhäuser der Zukunft sollten so gebaut werden, dass man die Fenster öffnen und die Patienten möglicherweise sogar in ihren Betten nach draußen schieben kann.« In gewisser Weise stimmt dem auch die Münchner Architektin Christine Nickl-Weller zu, eine Pionierin der »heilenden Architektur«, die auf der ganzen Welt zeitgemäße Kliniken baut: »Die Entwicklung geht dahin, normale Bettenzimmer wieder mit Fenstern zu bauen, die man öffnen kann. Und zwar nicht unbedingt, weil man’s braucht: Man kann Frischluft auch auf technischem Wege zirkulieren lassen. Aber man baut wieder Fenster, die sich öffnen lassen, weil der psychologische Effekt groß ist: Der Mensch will lüften, der Mensch will das Gefühl haben, ein Fens-ter aufmachen zu können.«
Auch die ganz normale Stoßlüftung zu Hause zwischen Frühstückstischabräumen und Schlüsselsuchen hat diesen wunderbaren psychologischen Effekt. Zweimal am Tag stehst du plötzlich mitten in der hereinbrandenden Außenwelt. Du merkst geradezu, wie die alte Luft der letzten Nacht an dir vorbeidrängt, sie wirkt träge und massiv, und mit ihr zieht aller möglicher anderer Mief nach draußen, gen Himmel: verbrauchte Gedanken, sinnloser Zank, diese leichte bis mittlere Niedergeschlagenheit, die man manchmal, wenn zu lange das Fenster zu war, anfängt, mit dem Leben zu verwechseln. Und plötzlich verstehst du Goethes Gedicht aus dem West-östlichen Divan: »Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:/Die Luft einziehen, sich ihrer entladen;/jenes bedrängt, dieses erfrischt;/so wunderbar ist das Leben gemischt./Du danke Gott, wenn er dich presst,/und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt!« Lüften ist sozusagen das Ausatmen der Wohnung, das wahrhaft Erfrischende, und wunderbar gemischt ist das Leben nur, wenn du lüftest. Denn Lüften ist göttlich. Oder so. Und dann schließt du die Fenster, und dein Leben fühlt sich so neu an wie die Luft in der Wohnung, und du bist gewappnet für die Außenwelt, weil sie für einen Moment eins ist mit der Innenwelt deiner Wohnung. Ein Ruck musste nie durchs Land gehen, aber unbedingt ein Stoß frischer Luft.
Illustration: Ping Zhu