Überschäumende Fantasie

Prickelnder Winzersekt liegt unserer Kolumnistin im Blut. Und diese Liebe zu Schaumwein spielt auch in ihrem neuen Roman eine tragende Rolle.

Foto: Erli Grünzweil

Weil meine Arbeit zum größten Teil darin besteht, aus Geschichten Romane zu machen, wühle ich gerade rund um die Uhr in den Legenden meiner Familie. Ich beschäftige mich mit Leuten, die Anfang des vorigen Jahrhunderts geboren wurden und an dessen Ende gestorben sind, ich versuche in die Köpfe und Herzen von Nazis und Kommunisten zu kriechen, ich habe viele Fragen an diese Menschen. Ich bemühe mich, das zu verifizieren, was ich glaube zu wissen, und wo Lücken auftauchen, versuche ich, die Gründe für diese Lücken zu verstehen.

Wichtig ist, die Lücken nicht restlos zu stopfen, sondern wegen der Lücken ins Erzählen zu finden, in den Möglichkeitsraum, in den Tonfall von Leuten, die ich nicht kannte, von denen ich aber weiß, dass es sie gab. Ich stelle mir vor, wie sie geredet haben, was sie gedacht und gefühlt haben, wie sie sich kleideten und was sie eigentlich an einem schönen Frühsommerabend so getrunken haben.

Eine zentrale Figur in unserer Familie war mein Großvater. Von ihm weiß ich einiges, zum Beispiel, dass er einen guten Schoppen niemals ablehnte. Mein Großvater wurde 1901 im Rheingau geboren, im Sternzeichen Jungfrau, er wuchs in Mainz-Weisenau auf, als Kind eines Tagelöhners, der in einer Zementfabrik am Rhein arbeitete, und als mein Großvater 14 Jahre alt war, fiel mein Urgroßvater in ein Zementsilo und erstickte. Von da an war sein Sohn an der Reihe mit der Arbeit, und so fing mein Opa als Teenager an, in einer Sektkellerei Flaschen umzudrehen. Die Remuage, das Rütteln der Flaschen mit dem künftigen Schaumwein drin, wurde von Antoine de Muller erfunden, dem Kellermeister von Madame Clicquot-Ponsardin, und der traditionelle, richtig gute, zart perlende Winzersekt wird bis heute in Pupitres hergestellt, schief stehenden Rüttelpulten, in denen die Flaschen auf dem Kopf stehen. Kurz: Der Rieslingsekt aus den Kellern am Rhein liegt mir im Blut, genau wie die Arbeiterbewegung und die nicht praktizierende Jungfrau.

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Mein Großvater hat es vom Tagelöhnerkind bis an die Hamburgische Staatsoper geschafft, seine Stimmlage war ein weicher Bass. Ausgebildet wurde er von einer jüdischen Gesangslehrerin in Wiesbaden, die sehr früh den grausamen Braten der Braunhemden roch und rechtzeitig nach England floh. Weil mir Wiesbaden erzählerisch nicht in den Roman passt, habe ich den Schauplatz in ein idyllisches Städtchen am Rheinufer verlegt, nach Eltville. Dort lebte meine Gesangslehrerin, ich nenne sie Betty. Den dramatischen Lebensweg der realen Gesangslehrerin verwende ich nicht, weil mir das unanständig vorkäme.

Betty ist eine Frau meiner Gedanken, eine Frau der Weimarer Republik, der freigeistigen Zeit vor dem brutalsten Backlash der Moderne, und ich kann nicht umhin, einige Parallelen zu ziehen. Betty trug ihre hellbraunen Locken à la mode, also kinnlang, sie liebte Kleider, die ihr Bewegungsfreiheit gaben, sie trug schimmernde Perlen, sie spielte vorzüglich Klavier, und weil ihr Vater Winzer war, zog sie die Korken schneller als Revolverhelden die Waffen. Sie wusste auch, dass man eine zu öffnende Schaumweinflasche am Hals anfasst und nicht am Boden, denn ihr Lieblingsgetränk war zartgolden prickelnder Rieslingsekt. Ihr Gatte arbeitete in Frankfurt, sie hatte keine Kinder, sie hatte Zeit für ihre Arbeit und die Musik, sie war ein gern gesehener Gast eleganter Soiréen, und wenn niemand hinsah, oder gerade wenn jemand hinsah, trank sie den Sekt auch mal aus der Flasche. Sie führte ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben. Dann kamen ein paar verunsicherte, grässliche Männer, angeführt von einem gekränkten österreichischen Postkartenmaler, und zerschlugen ihr Leben.