Und ein letztes Glas im Liegen

Warum trinken so viele Leute ihr Bier gerne im Stehen? Das fragt sich unser Kolumnist und hat eine Idee für einen Ausschank der etwas anderen Art.

Erli Grünzweil

Was eben noch der Barbershop war, ist jetzt schon der Stehausschank: In München eröffnet gerade alle paar Wochen ein neuer – ein holzvertäfelter Raum, ein paar Stehtische, die Halbe für 3,90 Euro (statt 5,90 Euro). In den Zeitungen schreiben sie von einem Trend, als nicht mehr ganz junger Mensch denkt man: Und wieder mal ist ihnen nichts Neues eingefallen. Denn natürlich ist es mit dem Stehausschank nicht anders als mit Heino: Das Konzept ist uralt, aber mit ein paar Marketingtricks lässt sich noch einiges raus­quetschen.

Warum aber finden gerade so viele Menschen Gefallen daran, ihr Bier im Stehen zu trinken? Liegt es am günstigen Preis? An der beiläufig geselligen Atmosphäre? Oder spielen gesundheitli­che Aspekte eine Rolle, weil sich inzwischen ja auch in jedem zweiten Büro ein Stehpult oder höhenverstellbarer Schreibtisch findet? Ich würde nicht ausschließen, dass einer damit angefangen hat, und alle anderen machen es nach, das ist in der Geschichte der Menschheit immer wieder so gewesen, wie sonst ließe sich das triumphale Comeback der schnöden Tennissocke erklären?

Also, ich stehe wahnsinnig ungern. Es muss mit meiner Faulheit zu tun haben, vielleicht liegt es auch an meiner Bequemlichkeit. Jedenfalls finde ich Sitzen viel gemütlicher, weshalb meine Hosen am Hintern grundsätzlich schmutzig sind, weil ich permanent auf Bordsteinen und Kühlerhauben sitze, um nicht in der Gegend rumstehen zu müssen. Es ist tatsächlich so, dass sich mein Körper, nachdem ich zwei Minuten gestanden habe, wie eine Honigskulptur anfühlt, alles drängt in die Horizontale, dazu kommen höllische Rückenschmerzen, manchmal lässt mich mein Kreislauf im Stich. Als kleiner Junge bin ich im Sonntagsgottesdienst regelmäßig zusammengeklappt, zum Glück sind die Deutschen inzwischen so gottlos, dass ich immer einen Sitzplatz kriege, sogar in der Osternacht.

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Ich träume schon lange von einer Bar, in der man liegen kann, ein bisschen wie bei einem römischen Gastmahl, mit hufeisen-förmig angeordneten Speisesofas. Ich würde mich auf meinen Ellbogen stützen, gelegentlich einen Schluck nehmen, ein bisschen plaudern, dazwischen gäbe es akrobatische Darbietungen, bei denen man kurz wegdösen könnte. Was früher Sklaven erledigt haben, könnte von KI-gesteuerten Robotern übernommen werden, also nachschenken, Palmwedel schwingen, den Mund halten. Gäbe es so eine Bar, ich wäre Stammgast, weil ich auch zu Hause fast alles im Liegen erledige, nicht nur fernsehen und lesen, sondern auch schreiben, telefonieren, nachdenken, Musik hören, bisweilen sogar essen und trinken, gelegentlich komme ich in mein Arbeitszimmer und bin überrascht, dass da ein Arbeitszimmer ist.

Und das kann man natürlich dekadent finden, aber ich möchte daran erinnern, dass der vielleicht bedeutendste Roman der Menschheitsgeschichte im Liegen entstanden ist: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust, der – geplagt von Asthmaanfällen – seine letzten 18 Lebensjahre überwiegend im Liegen verbrachte, in einer Sechszimmerwohnung am Boulevard Haussmann in Paris, in einem mit rohen Korkplatten ausgekleideten Schlafzimmer, um sich vor Lärm zu schützen. Soweit man weiß, schrieb Proust ausschließlich nachts, einen Schreibtisch hat er nie benutzt. »Seit fünfzehn Jahren lebe ich liegend«, schrieb der französische Schriftsteller 1919 in einem seiner unzähligen Briefe, danach lebte er noch drei Jahre, bevor er im Alter von 51 Jahren starb. Der Roman hat mehr als 4000 Seiten. Um ihn zu lesen, braucht man drei Tage, drei Stunden und 46 Minuten – ein gigantisches Werk, das einen ein ganzes Leben lang beschäftigen kann. Und was ich eigentlich sagen wollte: Diese Sache mit dem Stehausschank – nix für mich.