Das Drama des Dschungels

Alle reden vom Klimawandel, von schmelzenden Gletschern, heißen Sommern und Wirbelstürmen. Um den Regenwald in Südamerika, einst das liebste Sorgenkind der Umweltschützer, ist es still geworden. Heißt das etwa, ihm geht es heute besser? Wir sind ins Herz des Dschungels gefahren und widmen dieser Expedition ein ganzes Heft. Ein Bericht aus Amazonien, der leider wenig Hoffnung macht.

Als unser Bootsführer nach zwei Stunden Fahrt den Motor ausschaltet, um Benzin nachzufüllen, wird zum ersten Mal klar, was der brasilianische Regenwald wirklich ist: Stille. 4,1 Millionen Quadratkilometer Stille. Kein tropisches Tollhaus, wie man es aus dem Zoo kennt oder den Tier- und Abenteuerdokus im Fernsehen: kreischende Papageien, schreiende Affen, heulende Wildkatzen. Auf dem Rio Negro, fünfzig Kilometer stromaufwärts von Manaus, summen nicht einmal die Mücken. Eine ganz und gar unerwartete Ruhe umgibt uns im Herzen des größten Dschungels der Erde. Verwirrt beginnt das Gehirn zu suchen nach irgendeinem Geräusch, dem Knarren eines Baumes am Ufer, dem Flügelschlag eines Vogels, dem Gluckern eines Wasserstrudels, dem zarten Hauch des Windes. Aber der stoische Wald und sein Fluss verweigern jedes Lebenszeichen. Der Kontrast könnte kaum größer sein: soeben noch am Hafen von Manaus, typische Dritte-Welt-Stadt, dreckig, laut, überall Lautsprecher, die Latinomusik und die neuesten Sonderangebote auf die Straßen hinausbrüllen. Lautsprecher sogar vor den Kirchen, aus denen am Sonntag frühmorgens die Predigt dröhnt. Und nun auf dem Rio Negro eine Stille, wie man sie sonst nur in der Wüste erlebt. Der Rio Negro: einer der größten unter den 1100 Amazonas-Nebenflüssen, dreißig Kilometer breit an manchen Stellen. Links und rechts vom Boot zeichnet sich in blassem Grün der Wald am Ufer ab, der aus zwei oder drei Kilometern Abstand abweisend wirkt wie eine undurchdringliche Wand. Nach vorne Wasser bis zum Horizont, Wasser und Himmel, ein Ausblick wie auf dem offenen Meer. Die Regenzeit neigt sich dem Ende zu, der Wasserspiegel ist seit der verheerenden Dürre im Amazonasbecken vor zehn Monaten um 17 Meter gestiegen. Eben kam wieder ein Guss vom grauen Himmel, eine warme Dusche, bei dreißig Grad Lufttemperatur. Wir werden nass bis auf die Haut und schwitzen trotzdem. Etwas später erreichen wir unser Quartier, eine leer stehende Urwaldlodge am Ufer eines Seitenarms des Rio Negro. Die Sonne hat einige Lücken in die Wolken gefressen, der ganze Wald dampft und tropft. Direkt hinter der Lodge wuchert Dickicht, das gleichzeitig zu verrotten scheint. Schimmelgeflechte und Moose haben Bäume, Sträucher und Blätter in allen Farben überzogen, weiß, rot, grün, braun, schwarz. Dicke Lianen winden sich um die Stämme wie Würgeschlangen um ihr Opfer. Das diffuse Licht an diesem Tag unterstreicht den morbiden Charakter der Landschaft. Selbst bei strahlend blauem Himmel würde das Blätterdach der vierzig, fünfzig Meter hohen Bäume die meisten Sonnenstrahlen wegfiltern. Die Tierwelt präsentiert sich an Land kaum üppiger als zu Wasser, mit Ausnahme der absurd fleißigen Ameisenheere. Den ganzen Abend über ist nicht mehr zu hören als Froschgequake und vereinzelt der gellende Schrei des Tukans – ein schwarzer Spechtvogel mit einem überdimensionierten, bunten Schnabel. Henry Walter Bates, einer der großen britischen Naturforscher, schrieb 1863, die seltenen Schreie der Vögel verstärkten eher noch »das Gefühl der Einsamkeit« im brasilianischen Amazonasgebiet, »als dass sie ihm einen Hauch von Leben und Heiterkeit verleihen würden«. Der Mensch hat den Wald schon immer verehrt und gefürchtet: als Inbegriff der Natur, als Gegenwelt zur Zivilisation, als Heimat der Geister und Götter. Im Amazonas-Regenwald kommt noch hinzu, dass seine ungebändigte schöpferische Kraft keine Grenzen zu kennen scheint. Auf der Erde gibt es nur wenige Orte, die dem Menschen so deutlich vor Augen führen, wie klein und vergänglich er ist: das Himalaja-Gebirge, die Wüsten der Sahara, die Antarktis und eben der Amazonas-Regenwald. Die tiefe Ehrfurcht, die den Menschen bei ihrem Anblick erfüllte, drückt sich in den zahllosen Mythen aus, die sich um diese Orte ranken, und in den Beinamen, die er ihnen gab: Dach der Welt. Ewiges Eis. Grüne Hölle.

Der Anlass unserer Reise an den Amazonas war vor allem die merkwürdige Stille in Deutschland gewesen, eigentlich in der ganzen westlichen Welt. Wer spricht heute noch über den Regenwald? Und: Wie geht es ihm überhaupt? Vor zwanzig Jahren schossen noch überall die Regenwaldvereine aus dem Boden. Man entdeckte den Amazonas als Paradies, wenngleich nur aus der Ferne. Besorgte Menschen, von denen die wenigsten je einen Fuß auf südamerikanischen Boden gesetzt hatten, schenkten einander zu Weihnachten Patenschaften für Tropenbäume oder einen Quadratmeter Dschungel. Es ist keine zehn Jahre her, dass die Deutschen auf die Frage nach ihren größten Ängsten die Abholzung der Regenwälder nannten – vor Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Flüchtlingsströmen aus dem Ausland. Heute glaubt nur noch eine deutsche Privatbrauerei ihr Image mit dem Regenwald aufpolieren zu können. Aus der öffentlichen Diskussion ist das Thema praktisch verschwunden. Die Experten reden vom schmelzenden Eis in den Alpen und der Antarktis, die Zeitungen haben den Amazonas in die Randspalten verbannt. Ende März hieß es wieder einmal: »Klimawandel und Kahlschlag könnten weite Teile der süd-amerikanischen Amazonasregion trockenlegen. Das fürchtet die Umweltstiftung World Wide Fund for Nature.« Ein Zweizeiler zum möglichen Untergang des größten zusammenhängenden Regenwaldes der Erde. Die Menschen haben sich an solche Untergangsszenarien gewöhnt und glauben zu wissen, dass sie ohnehin nicht eintreten. Von der Kabine unseres kleinen Propellerflugzeugs aus unterscheidet sich die Gegend um Santarém kaum von Schleswig-Holstein oder Niederbayern: Ackerflächen bis zum Horizont, dazwischen Waldstreifen. Manche dieser Streifen sind kaum breiter als Hecken, auffällig oft stehen sie am Straßenrand, so als versuchte jemand, die gerodeten Flächen dahinter zu verbergen. Einzelne Paranussbäume ragen aus den grünen Feldern und wirken so, als hätten sie sich verirrt. Zwei Stunden kreisen wir über der Region, nur einmal sehen wir eine geschlossene Waldfläche: Es ist der Tapajós-Nationalpark. Ein Gesetz verbietet den Landbesitzern, mehr als zwanzig Prozent der Bäume auf ihrem Grund zu fällen. Daran hält sich offensichtlich kein Mensch. Das Abholzungsverbot für Paranussbäume wird auch nur respektiert, weil die Bauern wissen, dass sich das Problem von selbst erledigt: Schutzlos dem Wind und der Sonne ausgesetzt, überleben die Bäume meist nicht lange. Santarém hat 200 000 Einwohner und liegt am wuchtigen Rio Tapajós, der sich hier mit dem Amazonas vereinigt. Eine typische Stadt für diese Gegend, mit bunten Kolonialbauten, Jugendstilhäusern, die während des Kautschukbooms entstanden, zeitlos hässlichen Betonklötzen – und Holzhütten am Stadtrand. Meist sind es Kleinbauern, die dort auf engstem Raum mit Kindern, Eltern und Großeltern zusammenleben. Sie haben ihr Land an Großgrundbesitzer verkauft oder sind einfach vertrieben worden, endeten jedenfalls an einem Ort, wo es für sie nichts zu tun gibt. An den meisten Häusern wuchern Moose, Flechten, Schimmel. Schwarze Geier prägen das Stadtbild, sie sitzen auf Mülltonnen und Mobilfunktürmen. Als wir den Flughafen ansteuern, sehen wir ein weiteres Wahrzeichen der Stadt, die sich in den letzten Jahren zu einem Zentrum des brasilianischen Sojahandels entwickelt hat: das Frachtterminal der amerikanischen Firma Cargill. Nicht nur Umweltschützer meinen, seine Größe lasse keinen Zweifel: Die Amazonas-Niederlassung des Agrarkonzerns hat hier vorgebaut für weiter wachsende Umsätze im weltweiten Sojageschäft. Zwischen 1990 und 1995 wurden im brasilianischen Regenwald Jahr für Jahr 14 000 Quadratkilometer gerodet. In den folgenden fünf Jahren waren es bereits durchschnittlich 20 000, zwischen 2001 und 2004 sogar je 24 000 Quadratkilometer. Das entspricht etwa der Fläche von Mecklenburg-Vorpommern. Der Export von Tropenholz spielt heute kaum noch eine Rolle, das Geld sprudelt aus anderen Quellen: Brasilien ist inzwischen der weltgrößte Exporteur von Rindfleisch und Soja. Anfang der Neunzigerjahre grasten im Amazonasgebiet noch zwanzig Millionen Rinder, 15 Jahre später war die Herde auf sechzig Millionen angewachsen. Vergange-nes Jahr lieferten die Südamerikaner zwanzig Millionen Tonnen Soja in die Welt. Seinen Aufstieg verdankt das Land nicht zuletzt der BSE-Krise in Europa. Der Ausbruch der Tierseuche ließ die Nachfrage nach brasilianischem Rindfleisch in die Höhe schnellen. Zugleich suchten die europäischen Bauern nach einem Ersatz für Tiermehl, dessen Verfütterung die Behörden verboten hatten – und fanden ihn auf den Sojaplantagen im Amazonas-Regenwald. Seit 1960 wurde knapp ein Fünftel des Waldes abgeholzt, mehr als zweimal die Fläche von Deutschland. Wenn der Kahlschlag im selben Tempo weitergeht, wird bis 2050 fast die Hälfte des brasilianischen Regenwalds vernichtet sein. Wahrscheinlich kommt es noch schlimmer: Der weltweite Hunger nach Fleisch ist längst nicht gesättigt, aufstrebende Länder wie China verlangen nach mehr. In Zeiten explodierender Ölpreise hat der Westen zudem begonnen, seinen Durst nach Biokraftstoffen am Amazonas zu stillen. Biodiesel aus Soja. »Man müsste keinen weiteren Baum am Amazonas fällen«, sagt Alfredo Homma, Ökonom am Embrapa, dem Forschungsinstitut des brasilianischen Agrarministeriums. Den Landwirten stünden bereits siebzig Millionen Hektar offene Flächen zur Verfügung – das sei mehr als genug. Es gibt nur ein Problem, fügt er hinzu: »Einen Hektar ausgelaugten Boden so weit zu pflegen, dass er wieder bebaut werden kann, kostet 800 brasilianische Real. Einen Hektar Wald abzuholzen kostet 350 Real. Den Wald niederzubrennen kostet ein Streichholz.«

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Achtzig Kilometer nördlich von Manaus, im Regenwald: Kurz nach Mittag, 28 Grad Lufttemperatur, neunzig Prozent Luftfeuchtigkeit, der Schweiß perlt und will nicht trocknen in dieser natürlichen Sauna. Vor uns breitet sich ein Teppich aus totem Laub aus, durchzogen von einem Geflecht aus Wurzeln. Faustdicke und haardünne Wurzeln, rote, gelbe, braune Wurzeln, die nur wenige Zentimeter in den Boden reichen oder gleich über der Erde wuchern. Manche haben sich in umgestürzte Baumstämme oder abgestorbene Stümpfe hineingebohrt. Regina Luizão, Biologin am AmazonasForschungsinstitut Inpa, kratzt eine Schicht Laub vom feuchten Boden weg. Eine weitere Schicht kommt zum Vorschein. Und noch eine. »Davon lebt der Wald«, sagt sie: »Blätter!« Mit jeder tieferen Schicht ist das Laub ein Stück mehr verrottet. »Die Blätter, die frisch von den Bäumen gefallen sind, fressen Termiten und Ameisen. Was übrig bleibt, zerkleinern Pilze und Mikroorganismen.« Dabei werden Phosphor, Kalzium und andere Mineralien freigesetzt. Die Bäume nehmen die Nährstoffe sofort über ihr Wurzelgeflecht auf. »Im Regenwald speichert nicht der Boden die Nährstoffe, das machen die Pflanzen. Man kann auch einfach sagen: Der Regenwald ernährt sich selbst.« Der Boden allein besteht hauptsächlich aus Sand. Kein Humus, nichts. Die Regenfälle, durchschnittlich 2500 Millimeter pro Quadratmeter im Jahr – dreimal so viel wie in Deutschland –, spülen fast alle Mineralien weg. Den Rest vernichtet die Äquatorsonne, die das ganze Jahr über mit gleich bleibender Intensität auf die Erde sticht. Der Rio Negro und viele andere Flüsse der Region schwemmen kaum Nährstoffe an. Sie entspringen in den Hochebenen von Brasilien, Kolumbien und Guyana, extrem alten Gebirgen, aus denen der Regen in den vergangenen 600 Millionen Jahren alle Minerale gewaschen hat.Es gibt auch fruchtbaren Grund im Amazonasbecken: an den Ufern der sogenannten Weißwasserflüsse. Der Orinoko, der große Strom in Venezuela, zählt dazu. Und natürlich der Amazonas selbst. Sein milchiges, nährstoffreiches Wasser stammt aus den Anden, die vor etwa dreißig Millionen Jahren entstanden – ein vergleichsweise junges, kaum verwittertes Gebirge. Schon immer legten die Siedler ihre Äcker bevorzugt in der Nähe dieser Flüsse an. Wohl wissend, dass sich nur ein Bruchteil des Dschungels für den Ackerbau eignet. Der große Rest ist »Regenwald auf Wüste«, wie die Forscher sagen. Holzt man ab, bleibt nur Ödnis. Die Äste sind dürr und vertrocknet, die letzten verbliebenen Blätter hängen braun und schlapp am Baum – man nennt die Krankheit hier »Vassoura-de-bruxa«, das heißt »Hexenbesen«. Der Pilz hat einen Cupuacubaum angegriffen, dessen Frucht die Brasilianer zu Saft oder Eis verarbeiten. Ihr Geschmack ähnelt einer Mischung aus Limone und Banane. Vor ein paar Jahren begann sich das Geschäft mit Cupuacu zu lohnen. Die Bauern konnten die Nachfrage mit den nur sporadisch im Regenwald wachsenden Bäumen nicht mehr befriedigen und legten großflächig Plantagen an. Nun hat die Krankheit die Ernte vernichtet. Neu ist dieses Phänomen nicht. Schon in den Zwanzigerjahren erwarb der amerikanische Autopionier Henry Ford 2,5 Millionen Hektar im brasilianischen Dschungel, um dort Gummibäume zu pflanzen. Sein Traum von einem zweiten Kautschukboom am Amazonas endete nach wenigen Jahren, als Schimmelpilze seine Plantagen dahinrafften. »Dieses Land ist einfach nicht für Monokulturen geschaffen«, sagt die Biologin Regina Luizão. »Das ist aber auch der große Vorteil der Artenvielfalt im Regenwald: Wird eine Baumart krank, hat man immer noch die anderen.«

Warum gedeihen auf einem kargen Sandboden so viele Arten wie nirgendwo sonst? Warum leben vierzig bis fünfzig Prozent aller Organismen in tropischen Regenwäldern, die nur zwei Prozent der Erde bedecken? Die banale Antwort lautet: ausreichend Wasser und 365 Tage Sonne im Jahr. Das bedeutet 365 Tage Energie, um Photosynthese zu betreiben und Kohlenhydrate in den Regenwald einzuspeisen. Schätzungsweise siebzig bis neunzig Prozent aller Tiere und Pflanzen des Regenwalds leben deshalb in seinem Kronendach. Anders als auf dem kargen Boden wächst dort auch Nahrung im Überfluss: Blätter, Blüten, Früchte das ganze Jahr, nicht nur von den Bäumen selbst. Sogenannte Aufsitzerpflanzen nisten auf den Ästen oder Stämmen der großen Urwaldbäume und schaffen eigene Biotope. Manche Bromelienarten sammeln in ihren steifen Blättern bis zu zwanzig Liter Wasser, Lebensraum für Frösche und Insektenlarven. Dieser Welt voller Moose, Lianen und Orchideen, fünfzig Meter über der Erde, sind die Forscher mit Seilzügen, Kränen und Luftschiffen sehr nahe gekommen. Sie hoffen dort Grundstoffe für neue Pflanzenschutzmittel, Antibiotika und andere Medikamente zu entdecken. Aus Laboranalysen kennt man bereits einige Strategien und Substanzen, mit denen die Pflanzen auf dem Kronendach die zahlreichen Bakterien und Insekten abwehren. Auf dem Boden dagegen haben die Pflanzen und Tiere im Laufe von Millionen Jahren der Evolution gelernt, mit dem Mangel zu leben. Manche Arten wachsen nur im Schatten, andere versprühen Gift in die Umgebung, um zu verhindern, dass ein Spross derselben Art sich dort niederlässt und die ohnehin knappen Nährstoffreserven angreift. Die Folge dieses erbitterten Kampfes um Ressourcen: Auf einem Hektar Regenwald wachsen 300 verschiedene, hoch spezialisierte Pflanzenarten. In ganz Europa sind kaum mehr als fünfzig verschiedene Baumarten heimisch. Viele Tropenpflanzen schützen ihre Blätter vor Insekten zudem mit Tanninen, Gerbstoffen, die dem Rotwein seinen säuerlichen Geschmack geben. »Wir waren enttäuscht, keine größeren Tiere im Wald zu treffen«, wunderte sich der Naturforscher Henry Bates vor 150 Jahren. »Weder sahen noch hörten wir Affen, kein Tapir oder Jaguar kreuzte unsere Wege.« Wie auch, wenn das Nahrungsangebot nicht einmal den Insekten reicht? Samstagabend auf der Promenade von Santarém. Die unerbittliche Sonne ist vor einer Stunde untergegangen, die Dunkelheit hat den Regenwald am anderen Ufer des Rio Tapajós verschluckt. Straßenhändler verkaufen Bier, Telefonkarten und Ohrringe, einige Gaukler machen Musik. Schmusende Pärchen, Eis schleckende Kinder, alle paar Meter ein Angler, der seine Rute über das Flussgeländer streckt. Eine Stadt atmet auf. Dreißig Meter vor der Promenade fährt ein Schiff auf. Die Besatzung entrollt ein weißes Transparent. Ein Schlauchboot nähert sich, mit einem Projektor an Bord. Er strahlt Bilder vom Regenwald auf das Transparent, darüber dicke Buchstaben: »Cargill vernichtet den Regenwald«. Auf der Promenade regt sich Unmut, Pfiffe sind zu hören. Jeder weiß, wer die Leute auf den Booten sind: Greenpeace. Die Zeitungen schreiben seit Tagen über die Umweltschützer, die Protestaktionen gegen den Sojaanbau rund um Santarém angekündigt haben. »Greenpeace vernichtet Arbeitsplätze« und »Greenpeace bringt Armut«, so lauten die Schlagzeilen. Viele Autos in der Stadt tragen Aufkleber am Heck: »Fora Greenpeace«. Das heißt: »Greenpeace raus«. Feuerwerkskörper fliegen auf das Schlauchboot. Ein zweites Schlauchboot rauscht herbei. Ein Mann richtet den Scheinwerfer seiner Kamera auf die Menge am Ufer und beginnt zu filmen. Auch sein Boot wird mit Feuerwerkskörpern beschossen. Nach fünf Minuten drehen die Greenpeace-Boote ab. Die Zuschauer johlen. Ein Pulk von kräftigen Männern, manche tragen Jeans, dicke Gürtelschnallen und Cowboyhüte: Sojabauern. Einer von ihnen, Mitte fünfzig, graue Haare, Vollbart, ist besonders aufgebracht: Vor zwanzig Jahren zog er mit seiner Familie von São Paulo nach Santarém. »Die Regierung hat uns Farmer geholt, um das Land zu bebauen. Genau das haben wir getan. Und nun kommen die Gringos und beschimpfen mich als Verbrecher.« Er hat eine Familie zu ernähren und bangt um seine Existenz. Seit vier Jahren baut er auf seinen Feldern Soja an. Mitarbeiter des US-Konzerns Cargill ermunterten ihn, wie viele andere Farmer, zu diesem Schritt und vergaben großzügig Kredite für den Kauf von Dünger und Maschinen. Anfangs lief das Geschäft gut, die Gewinne stiegen. Aber im Jahr 2005 stürzte der Weltmarktpreis in den Keller. Für den Amazonas-Regenwald war 2005 ein relativ gutes Jahr: Es wurden dreißig Prozent weniger Bäume gefällt als in den zwölf Monaten zuvor.

Eine Frage, die sich in dem Gestrüpp verschiedener Interessen stellt: Ist es wirklich am Westen, der seine Wälder schon vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten abholzte, nun den Brasilianern Ratschläge zu erteilen? Aus Sicht der brasilianischen Regierung ist der Schutz des Regenwaldes eines von vielen Problemen, jedenfalls nicht das wichtigste: Ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, jeder achte Brasilianer hungert. Das Land drückt ein gigantischer Schuldenberg von 160 Milliarden US-Dollar – so viele Schulden hat kaum eine andere Nation der Erde. Trotzdem will Brasilien weiter aufsteigen im Club der weltweit größten Wirtschaftsmächte. Mit einem Milliardenprogramm plant die Regierung die Infrastruktur des Amazonasgebiets zu verbessern, das fast die Hälfte des staatlichen Territoriums ausmacht. Neue Straßen, Bahntrassen, Häfen, Flughäfen, Stromleitungen und Staudämme sollen entstehen. Eines der Großvorhaben ist die Asphaltierung der BR 163 von Cuiabá nach Santarém, bisher größtenteils eine Sandpiste, die den Norden Brasiliens mit dem Süden verbindet. Von der Straße werde vor allem die Landbevölkerung profitieren, heißt es, und endlich Zugang zu Schulen und medizinischer Versorgung erhalten. Fest steht, dass vor allem die Großbauern in Mato Grosso profitieren werden, dem Bundesstaat mit den größten Sojafeldern Brasiliens. Die Unternehmen haben ausgerechnet, dass sie jedes Jahr 150 Millionen Dollar sparen, wenn sie ihre Ware nicht mehr umständlich in die Häfen Südbrasiliens transportieren, sondern nach Santarém und vom dortigen Hafen über den Amazonas nach Europa und Nordamerika. Die brasilianischen Zeitungen bezeichnen die BR 163 inzwischen nur noch als Soja-Highway. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass neue Infrastruktur und eine wachsende Wirtschaft immer noch mehr Menschen anziehen. Seit 1960 hat sich die Zahl der Bewohner des Amazonasgebiets auf zwanzig Millionen verfünffacht. Viele Forscher warnen zudem, dass die Pläne der Regierung Hunderttausende Hektar Regenwald bedro-hen. Der Name des Milliardenprogramms? »Avança Brasil«, also »Vorwärts Brasilien«. Eine der reichsten und mächtigsten Familien des Landes trägt den Namen Maggi. Ihr Aufstieg beginnt vor 25 Jahren, als André Maggi, ein Sprössling italienischer Einwanderer und Landwirt in Südbrasilien, nach Mato Grosso umsiedelt. Der Bundesstaat ist zweimal so groß wie Frankreich und besteht halb aus Savanne, halb aus Regenwald. Für einen Spottpreis kauft Maggi den Indianern dort ihr Land ab. Anders als die Handvoll Kleinbauern, die in der Region in mühsamer Handarbeit ihre Parzellen bewirtschaften, rückt Maggi mit hochmodernen Maschinen an und mit allem, was die Agrochemie zu bieten hat. Nach aufwändigen Labortests und Freilandversuchen schafft er, was selbst die Experten für unmöglich gehalten hatten: auf dem knochentrockenen Boden der Savanne Soja anzubauen. Heute ist seine Grupo Amaggi der größte Sojaproduzent der Erde. Um den Firmensitz entsteht eine eigene Stadt. Sie heißt Sapezal und ihr erster Bürgermeister wird André Maggi. Er baut Straßen und Hafenanlagen, Infrastruktur, die auch der verarmten Bevölkerung zugute- kommt auf diesem weißen Fleck der Landkarte. In seinem Sog steigen andere Farmer ins Sojageschäft ein, die ganze Nation erobert die Spitze eines Weltmarkts, den noch vor wenigen Jahrzehnten die Amerikaner zu achtzig Prozent dominierten. Er zieht sogar mit den Umweltschützern an einem Strang, als er und andere Großbauern aus Mato Grosso sich erfolgreich gegen den US-Konzern Monsanto wehren, der gentechnisch veränderte Sojabohnen in Brasilien einführen will. Diese Allianz zerbricht bald wieder, als sich die Sojabauern nicht länger mit der Savanne begnügen, sondern immer tiefer in den Dschungel eindringen. Blairo Maggi, ein kleiner, bulliger Agraringenieur, leitet die Firma seit dem Tod seines Vaters im April 2001. Die Proteste der Regenwaldschützer beeindrucken ihn wenig. »Wir sprechen von einem Gebiet größer als Europa, das bisher kaum erschlossen ist. Es gibt wirklich keinen Grund, in Panik zu verfallen.« Wenn es nach seinen Vorstellungen geht, wird Mato Grosso seine landwirtschaftliche Produktion bis 2010 verdreifachen. Die Menschen, die hier leben, scheinen ähnlich zu denken: Jedenfalls wählten sie Blairo Maggi im Jahr 2003 zu ihrem Gouverneur.

Man kann den Regenwald aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten: Für die Holzfirmen stellt er vor allem ein Produkt dar, für die Landwirte ein Hindernis, für die Schriftsteller einen Schauplatz romantischer Abenteuergeschichten, für Umweltschützer ein schwindendes Paradies. Die Bewohner des Urwalds nehmen ihn meist als einen Ort wahr, der ihnen das Leben erschwert, ein undurchdringliches Geflecht aus Sträuchern, Lianen und umgestürzten Bäumen, gegen das nur eine scharfe Machete hilft. Im Waldstück Nummer 2107 braucht man kein Buschmesser: Dort sieht es aus, als habe jemand aufgeräumt. Die Bäume halten einen respektvollen Abstand, dazwischen wuchert so wenig wie in einem deutschen Kiefernwald. Auch das Kronendach lässt wesentlich mehr Sonnenstrahlen durch als die im Regenwald üblichen ein bis zwei Prozent. Das Waldstück 2107 gehört zu einem Großversuch, den Forscher des Inpa-Instituts Anfang der Achtziger- jahre vor den Toren von Manaus starteten. Damals rodeten Großbauern den Wald, um Weideland für ihre Rinder zu schaffen. Die Forscher konnten sie davon überzeugen, 27 nicht zusammenhängende Waldstücke zu verschonen, zwischen einem und tausend Hektar groß. Sie wollten herausfinden, welchen Einfluss der Kahlschlag in der Umgebung auf das Leben im verbleibenden Wald hat. Ein Vierteljahrhundert später: Die Bauern haben das Land längst aufgegeben, die ehemaligen Weideflächen überziehen zehn bis 15 Meter hohe Sträucher. Die Fragmente des Urwalds sind immer noch deutlich zu erkennen – sie stehen wie Fremdkörper in der Buschlandschaft. An den Waldrändern zeigten sich die Ver-änderungen am deutlichsten. Pflanzen, die es gewohnt sind, im Schutz der hohen Urwaldbäume zu wachsen, waren mit einem Schlag dem Sonnenlicht, Wind und Regen ausgesetzt: Sie warfen ihre Blätter ab und verdorrten. Vom Rand bis sechzig Meter ins Innere des Waldes starben siebenmal so viele Bäume wie im gesunden Regenwald. Die dabei entstandenen Lücken im Kronendach ließen mehr Sonnenlicht auf den Boden, der mit mehr Laub und doppelt so viel totem Holz wie üblich übersät war. Die Waldbrandgefahr stieg. Am schlimmsten traf es erwartungsgemäß die kleinsten Waldstücke. Die Fläche mit der Nummer 2107, einen Hektar groß, hat laut Aussage der beteiligten Forscher »nichts mehr mit dem Wald gemein, der früher an dieser Stelle stand«. Zwanzig Prozent des Amazonas-Regenwalds wurden bisher abgeholzt. Wie der Versuch zeigt, bedeutet das nicht, dass die rest-lichen achtzig Prozent noch gesund sind. Auf der Terrasse des »Piracatu«, eines kleinen Fischrestaurants im Zentrum von Santarém. Giovanna Palazzi empfiehlt einen Pirarucu. »Eigentlich dürfte er zu dieser Zeit des Jahres gar nicht gefangen werden, weil die Fische gerade laichen. Er schmeckt aber einfach am besten.« Giovanna Palazzi muss es wissen, sie arbeitet für die staatliche Umweltbehörde Ibama. Die Behörde entstand vor 17 Jahren, als Antwort auf die Kritik, die brasilianische Regierung unternehme nichts gegen den Kahlschlag in den Wäldern. Giovanna Palazzi hat blonde, lange Haare, ein mädchenhaftes Gesicht und von ihren italienischen Vorfahren eine erfrischende Ehrlichkeit geerbt. Mit ihrem Studium ist sie gerade seit vier Jahren fertig. Nun beaufsichtigt sie 15 Naturschutzgebiete, darunter der Tapajós-Nationalpark, der allein 6000 Quadratkilometer misst. Immer wieder dringen Holzfäller oder Jäger illegal dort ein oder Kleinbauern siedeln sich verbotenerweise dort an. Was macht sie dann? »Ich fordere sie auf zu gehen.« – »Und wenn sie das nicht tun?«– »Dann haben wir ein Problem.« Es dauert Jahre, bis die Gerichte ein Urteil fällen. Oft kommt es gar nicht erst zum Verfahren. Die Ibama hat weder genug Leute noch Autos, um überall zu sein, wo gerade ein Gesetz verletzt wird. Das fördert nicht gerade die Autorität der Behörde, die im Jahr 2004 Strafen in Höhe von 600 Millionen Real verhängte – aber gerade zwei Prozent davon eintreiben konnte. In Novo Progresso, einer Urwaldstadt mit 40 000 Einwohnern und 35 Sägewerken, scheiterte die Ibama schon beim Versuch, ein Büro zu eröffnen. Zweimal wurden die Mitarbeiter von den Einwohnern verjagt. Weiter nördlich auf der BR 163, in Itaituba, sah sich die Naturschutzbehörde gezwungen, vor allem ihr eigenes Büro zu schützen – mit Mauern und Stacheldraht. Vier von fünf Bäumen am Amazonas werden illegal gefällt. Voriges Jahr flog im Bundesstaat Mato Grosso eine mafiöse Vereinigung auf, die im großen Stil mit Tropenholz gehandelt hatte. Die Polizei verhaftete neunzig Personen, fast die Hälfte von ihnen waren Mitarbeiter der Naturschutzbehörde Ibama. Der Amazonas-Regenwald, die grüne Lunge der Erde? Seit ein paar Jahren zählt Brasilien zu den zehn Nationen, die weltweit am meisten Treibhausgase ausstoßen. Und das, obwohl das Land vergleichsweise wenig Schwerindustrie besitzt und seine Energie zu großen Teilen aus Wasserkraft gewinnt. Sechzig Prozent des Kohlendioxids, das Brasilien in die Luft bläst, sind das Resultat von Kahlschlag und Brandrodung – im Amazonas-Regenwald.

Halb sechs Uhr morgens auf der Plattform eines schmalen Stahlgerüsts, das mit 53 Meter Höhe über die höchsten Baumwipfel hinausragt: Der Horizont im Osten hat sich leicht rötlich gefärbt, nach allen Seiten breitet sich ein Meer aus grünen Bäumen aus. Ihr Grün ist um diese Zeit am intensivsten und verblasst tagsüber zunehmend, bis die Sonne ihren Zenit erreicht hat. Ein wenig pfeift der Wind, ansonsten herrscht Stille. Weit und breit sind keine Spuren menschlicher Zivilisation zu erkennen. »Alles erinnert hier an den Urzustand der Welt.« So hat Alexander von Humboldt vor 200 Jahren den südamerikanischen Regenwald beschrieben. Über manchen Waldstrichen dampft der Nebel und man versteht, was die Forscher meinen mit dem Satz, der Wald schaffe sich sein Klima selbst. Türme wie dieser, sechzig Kilometer nördlich von Manaus, wurden überall im Regenwald installiert. Sie messen den Austausch von Gasen, Flüssigkeit und Wärme zwischen Wald und Atmosphäre. Man weiß, dass der südamerikanische Urwald drei Viertel seines Regens selbst produziert. Das Wasser verdunstet über dem Amazonasgebiet, steigt in die Atmosphäre auf und regnet sofort wieder über dem Wald ab. Eine bisher unbewiesene, aber unter Forschern verbreitete Theorie: Die Abholzung der Wälder gefährdet dieses Gleichgewicht. Irgendwann könnten so viele Bäume gefällt sein, dass der verbleibende Wald nicht mehr genügend Wasser an die Atmosphäre abgibt, um die 2000 Millimeter Regen im Jahr zu produzieren, die er zum Überleben braucht. Anstelle des Regenwalds bliebe nur noch Savanne zurück. Viele Experten glauben, dass es so weit sein wird, wenn dreißig Prozent der Wälder abgeholzt sind. Es fehlen also nur noch zehn Prozent. Charles Clement forscht und lebt seit dreißig Jahren am Amazonas. Mit den langen grauen Haaren und dem grauen Vollbart sieht er aus wie ein Althippie, einer, der über die Jahre mit dem Zauber des Waldes verwuchs. Seine Sprache ist aber eher die eines Ökonomen. Wie er die Zukunft des Regenwalds sieht? »Welche Zukunft? Als Wüste vielleicht?« Man dürfe sich keine Illusionen machen, sagt er. »Der Wald wird nur überleben, wenn er den Bewohnern der Region auch Geld bringt. Seine Artenvielfalt wird ihn nicht retten, das hat man in der Vergangenheit gesehen: Schokolade, Kautschuk, Guaraná – lauter Produkte, die ursprünglich aus dem Regenwald stammen.« Als die Nachfrage stieg, kamen Geschäftsleute und bauten die Pflanzen in Plantagen an. Die Bauern im Regenwald konnten nicht mehr konkurrieren. Die Palmenfrucht Açaí wäre ein Beispiel, wie es funktionieren könnte, meint Clement: Man muss auf den Baum klettern, um sie zu ernten, das lässt sich kaum mechanisieren. Der Markt ist begrenzt, aber groß genug, dass eine gewisse Zahl Menschen davon leben kann. »Wir brauchen Tausende Nischenprodukte wie Açaí. Haben wir diese Produkte? Nein.« Altamira, eine knappe Flugstunde südöstlich von Santarém. Die Holzfäller haben offensichtlich ganze Arbeit geleistet: Die Landschaft sieht aus der Luft aus wie ein gigantischer Golfplatz. Die 80 000-Einwohner-Stadt wäre auch auf dem Landweg zu erreichen: über die Transamazónica. Aber im Moment, eigentlich während der gesamten sechs Monate dauernden Regenzeit, versinkt der Verkehr im metertiefen Morast, Busse und Lastwagen stecken Tage, wenn nicht Wochen fest. In ihrer Abgeschiedenheit haben die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand genommen: Gesetze zählen wenig, es gilt das Recht des Stärkeren. Das sind in Altamira die Holzfirmen und Großgrundbesitzer. Ganz oben auf ihrer Todesliste steht Tarcisio Feitosa. Feitosa ist 35, hat eine Frau, zwei Söhne und eine Statur wie Ronaldo. Seit seinem 16. Geburtstag gehört er der sozialen Bewegung an, kämpft für die Rechte der Landlosen und Indianer und für den Schutz der Wälder. Als die Gier der Holzfirmen vor gut fünf Jahren ihren Höhepunkt erreichte, ließ sich Feitosa von einer Firma anstellen. Er fand heraus, wo die illegal geschlagenen Hölzer lagerten und auf welchen Wegen sie abtransportiert wurden. Nach einigen Wochen übergab er seine Informationen an die Staatspolizei, die in einer der folgenden Nächte mit Hubschraubern und Flugzeugen in die Region einfiel. Am Ende der Razzia im Regenwald hatten sie 6000 Stämme Mahagoni beschlagnahmt. Das Holz wurde für mehr als 1,5 Millionen Dollar versteigert. Feitosa überredete die Behörden, die Summe einem neu gegründeten Sozialfonds zu überweisen. Geld aus kriminellen Quellen für einen Fonds, der den Armen und der Umwelt zugutekam – das hatte es in Brasilien noch nie gegeben. Das war nur eine Aktion von vielen, mit der Feitosa die Holzmafia gegen sich aufbrachte. Mindestens so bedroht wie der Wald waren lange Zeit auch die Stammesgebiete der Indianer. Feitosa und seine Mitstreiter streiften deshalb acht Monate durch die Wälder südlich der Stadt, ausgerüstet mit hochmodernem Messgerät, um dort ein Reservat zu demarkieren. Auf dem Papier existierte es schon lange, aber auf die Grenzpflöcke, die für jedermann sichtbare Abgrenzung ihres Reservats, warteten die Indianer vergeblich. Es sei technisch unmöglich, im Dickicht des Urwalds eine gerade Grenzlinie zu ziehen, behaupteten die Behörden. Feitosa und seine Leute zogen eine Linie von 130 Kilometern. Heute bedecken Indianerreservate zwölf Prozent der Fläche Brasiliens. Auf diesen Flächen wird erfahrungsgemäß weit weniger illegal geholzt als im ungeschützten Regenwald. Im April dieses Jahres bekam Tarcisio Feitosa in Kalifornien den Goldman-Preis verliehen. Die Auszeichnung gilt als Nobelpreis für Umweltschützer. Es war die zweite große Feier für Feitosa in diesem Jahr: Im Februar gedachte die soziale Bewegung der Hunderte Aktivisten, die im Kampf um den Regenwald im Bundesstaat Pará ihr Leben ließen. Für jeden Toten wurde ein Kreuz aus Holz aufgestellt. Daneben gab es einige Kreuze, die blutrot angemalt waren. Sie galten den Aktivisten, die in der Vergangenheit Todesdrohungen erhalten hatten. Eines der Kreuze stand für Tarcisio Feitosa.

Im Herbst vergangenen Jahres brach über die Bewohner mehrerer Amazonasstaaten die schlimmste Dürre aller Zeiten herein. Flüsse, die wichtigsten Verkehrswege in der Region, trockneten fast völlig aus, Dörfer waren wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten. Rauchschwaden verdunkelten den Himmel, in den Flussbetten verwesten die Fische tonnenweise, Melonen und Bananen verrotteten an den Bäumen und die Menschen wagten sich nur noch mit Schutzmasken auf die Straßen. Wälder brannten, von denen die meisten Experten gedacht hatten, sie seien zu feucht und könnten nie in Flammen aufgehen. Ein Vorgeschmack auf kommende Zeiten? Im Jahr 2000 errechneten die Klimaforscher erstmals, dass der Amazonas langsam austrocknen werde. Die Modelle wurden seitdem verfeinert, am Ergebnis hat sich nichts geändert, erklärt Philip Fearnside, Ökologe am Forschungsinstitut Inpa. Der Erdsimulator im japanischen Yokohama, der leistungsstärkste Computer der Welt, habe für das Amazonasbecken deutlich weniger Regen und Spitzentemperaturen von 50 Grad Celsius berechnet. »Das wird der Wald nicht überleben.« Im Amazonas-Regenwald sind schätzungsweise 120 Milliarden Tonnen Kohlenstoff gebunden. Würde der Wald vom Erdboden verschwinden, entwichen 120 Milliarden Tonnen Kohlenstoff über kurz oder lang in die Atmosphäre. Zum Vergleich: Derzeit emittieren alle Nationen der Erde pro Jahr 25 Milliarden Tonnen. Bei Kilometer 67 auf der Landstraße zwischen Santarém und Cuiabá zweigt ein Feldweg ab. Noch fünf Kilometer Matsch und Wasserpfützen, dann erreichen wir einen kleinen Parkplatz, mitten im Tapajós-Nationalpark. Vor zehn Minuten hat es zu regnen aufgehört, aber im Wald mit seinen verschiedenen Blätteretagen fallen immer noch Tropfen. Man glaubt, reinen Sauerstoff zu atmen, so klar ist die Luft. Von Flechten überwucherte Baumstämme, Palmen mit drei Meter langen Blättern, Luftwurzeln so dick wie Ofenrohre, alles in ein grünes Aquariumslicht getaucht – auch nach einem Dutzend Ausflügen in den Dschungel bleibt er eine magische, fremde Welt.Vor sieben Jahren rückt hier ein Trupp von vierzig Arbeitern an. Mit 5600 Paneelen, Rechtecke aus Holz, einen halben mal drei Meter groß, bezogen mit Plastikfolie, decken sie den Regenwald ab. Das Projekt heißt »Seca Floresta«, trockener Wald. Die Forscher wollen bis ins Detail verfolgen, was geschieht, wenn man dem Regenwald seinen Regen entzieht. Die ersten drei Jahre passiert kaum etwas. Aber im vierten Jahr sterben die Bäume reihenweise. Vor allem trifft es die gro-ßen Exemplare von dreißig Meter Höhe und mehr, die in ihren Stämmen, Ästen und Wurzeln neunzig Prozent des Kohlenstoffs binden, der im Regenwald gespeichert ist. Die umstürzenden Bäume reißen zudem in das Kronendach große Löcher, durch die mehr Sonnenlicht eindringt. Das Waldstück trocknet noch schneller aus. Im »Seca Floresta« herrscht acht bis zehn Wochen im Jahr extreme Waldbrandgefahr, in den umliegenden Wäldern nur an zehn Tagen. Mehr Waldbrände setzen wiederum mehr Kohlendioxid frei. Außerdem wächst der Versuchswald immer langsamer und absorbiert immer weniger Kohlendioxid. So beobachten die Forscher eine Reihe verschiedener Kettenreaktionen – mit der immer gleichen Konsequenz: noch mehr Kohlendioxid in der Atmosphäre, jenes Gas, das die Erde in eine für den Menschen unbewohnbare Wüste zu verwandeln droht. Vor gut zwei Jahren endet das Projekt. Nicht nur, weil es die Verantwortlichen so wollen: Fast scheint es, als beginne sich der Wald zu wehren gegen das zerstörerische Treiben der Menschen. Herabfallende Äste zerfetzen mehr und mehr die Plastikfolien der Paneele, die den Pflanzen das Wasser zum Leben entzogen hatten. Seitdem erobert sich der Dschungel zurück, was man ihm geraubt hat: Das Holzgerüst des Experiments hat Moos angesetzt. Einer der Beobachtungstürme auf dem Gelände ist so morsch, dass er bald einstürzen wird. Die Paneele, zu Dutzenden gestapelt, rotten langsam vor sich hin. Das ist die gute Nachricht aus dem Seca Floresta: DerRegenwald kann sich auf die Dauer selbst retten, wenn man ihn nur lässt. Aber gilt das auch für den Menschen?