Muss ich wegen einer Trauerfeier auf meinen Geburtstag verzichten?

Bei der Planung der Trauerfeier eines Verwandten wird der Freundin unserer Leserin Pietätlosigkeit vorgeworfen, nachdem sie darauf hingewiesen hatte, dass sie am selben Tag Geburtstag hat. Ist sie rücksichtslos?

Illustration: Serge Bloch

»Der Schwiegervater meiner Freundin ist gestorben. Im WhatsApp-Familienchat wurde als Beisetzungstermin ein Freitag vorgeschlagen, verbunden mit der Frage: Spricht etwas dagegen? An dem Tag hatte meine Freundin Geburtstag und wies im Chat darauf hin. Ihr wurde Pietätlosigkeit vorgeworfen. Die Trauerfeier fand an dem Freitag statt, meine Freundin meinte, der Tag war einfach gewählt worden, weil er an das Wochenende anschließt und für die Lebenden praktisch ist. Was meinen Sie dazu?« Christine L., Bietigheim-Bissingen

Hm. Vielleicht waren gerade alle in diesem WhatsApp-Chat ein bisschen durch den Wind. Könnte man verstehen, war ja gerade jemand gestorben, da muss man vielleicht ein bisschen nachsichtig sein, da stürzen ja auf jeden Angehörigen viele und ganz eigene Gefühle ein. Vielleicht mussten einige extra anreisen und waren deshalb so auf den Freitag erpicht? Vor Beerdigungen haben doch alle immer Bammel und sind deshalb wahrscheinlich einfach froh, wenn sich praktische Dinge flott regeln lassen, sich etwa die Mehrheit auf einen Tag einigen kann. Da auch noch Rücksicht auf so Lappalien wie einen Geburtstag zu nehmen, ist möglicherweise eine Überforderung. Das ist natürlich nicht nett Ihrer Freundin gegenüber. So oft hat man schließlich auch wieder nicht Geburtstag im Leben. Ich weiß nicht, wie alt Ihre Freundin ist, aber ab einem gewissen Alter ist man an seinem Geburtstag ja auch in Grabesstimmung, da ist eine Beerdigung doppelt hart. Dann wiederum: Ist Ihre Freundin bereits erwachsen, könnte sie ihren Geburtstag mental vielleicht auf einen anderen Tag verschieben, man feiert ja auch ohne Beerdigung nach, wenn der Geburtstag etwa auf einen Dienstag fällt.

In den späten Achtzigerjahren gab es eine Radiosendung in einem Münchner Privatsender, in der ein Psychotherapeut auf die Sorgen von Anrufern einging. Sie kam einmal die Woche, ich glaube Donnerstagabend, und dann saß ich andächtig in meinem Teenagerzimmer vor der Stereoanlage auf dem kratzigen Sisalboden und hörte zu. Einen Satz sagte der Therapeut so oft, dass ich ihn nie vergessen habe und sogar noch seine Stimme im Ohr habe, wenn ich daran denke, sanft und als ob er lächelt: »Jeder hat recht in seinem eigenen Überzeugungssystem.« Ich verstehe Ihre Freundin, aber ich bin mir sicher, die Gegenseite würde man auch irgendwie verstehen.