Darf ich ein Familiengeheimnis lüften?

Unser Leser trifft zum ersten Mal auf die Tochter einer Geliebten seines Vaters, die von der Verwandtschaft nichts weiß. Sollte er sie aufklären? 

Illustration: Serge Bloch

»Mein verstorbener Vater hat mit einer Bekannten ein unehe­liches Kind. Meine ebenfalls verstorbene Mutter wusste das. Vor einiger Zeit trieb mich die Neugier, und ich besuchte die Frau. Sie sieht aus wie mein Vater, und wir haben uns auf Anhieb verstanden, wie es nur Geschwister können. Sie weiß offenbar nichts. Darf oder soll ich ihr die Wahrheit eröffnen? Schließlich ist sie meine Halbschwester.« Anonym, per Mail

Verzeihung, aber ich möchte Ihnen direkt widersprechen: Dass Sie sich auf Anhieb so glänzend mit dieser Frau verstanden haben, hat wahrscheinlich nichts damit zu tun, dass Sie beide miteinander verwandt sind. Zumal Sie ja ganz unterschiedlich aufwuchsen, in verschiedenen Familien. Nur weil man denselben Vater hat, teilt man noch lange keine gemeinsame Ebene, viele Geschwister verstehen sich überhaupt nicht. Sie haben möglicherweise einiges in diese Begegnung hineinprojiziert, allzu verständlicherweise, da sie ja durch Ihr Wissen, Ihren Wissensvorsprung mit immenser Bedeutung auf-geladen war.

Sie fragen, ob Sie dieser Frau sagen dürfen oder sollen, was deren eigene Mutter ihr offenbar verschwieg. Dürfen tun Sie das natürlich, wer sollte es Ihnen verbieten? Ob Sie es allerdings sollten, das ist die eigentliche Frage. Dafür spräche, dass diese Frau vielleicht gern wüsste, wer ihr biologischer Vater ist. Dagegen spricht, dass Sie das nicht wissen. Sie kennen diese Frau nicht, stehen ihr nicht nahe und haben sich ihr unter Vorspiegelung falscher Tatsachen oder zumindest nicht mit offener Agenda genähert. Wenn Sie ihr nun diese krasse Information eröffnen, würde das dazu führen, dass das bisherige Leben dieser Frau vorbei wäre und ein neues begönne. Voller Fragen, Unsicherheiten, Zweifel. Was hätten Sie davon? Zumal sie ihren biologischen Vater nicht einmal mehr kennenlernen kann, da er ja nicht mehr lebt.

Mein Rat wäre, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sich nun gezielt mit ihr zu befreunden, weil sie gar so nett war, wäre auch ein wenig creepy. Schätzen Sie sich doch einfach glücklich, nicht selbst mit einem solchen Familiengeheimnis belastet zu sein. Und sollte das Schicksal es so wollen, dass diese Frau eines Tages mit Fragen auf Sie zukommt, dann, ja dann können Sie offen reden.