Meine stachelige Freundin Helga

Die Münchnerin Ingrid Walser hat im Lauf der Jahre viele zugelaufene Tiere aufgenommen. Aber zu einem Igelweibchen war die Beziehung so eng, dass die beiden gemeinsam mehrere Generationen Igelbabys großgezogen haben.

Zu Beginn ihres Lebens sind die Stacheln junger Igel noch ganz weich, so dass man sie gefahrlos in die Hand nehmen kann (Symbolbild).

Foto: Remiphotography/istockphoto.com

Im Lauf ihres langen Lebens hegte und pflegte Ingrid Walser aus München-Daglfing zahlreiche Igel und viele andere Tiere, die ihr zuliefen oder gebracht wurden. Sie starb im Frühjahr im Alter von 78 Jahren, einige Wochen nachdem sie unserem Kolumnisten Jürgen Teipel die folgende Geschichte erzählt hatte.

Seit vierzig Jahren mindestens hab ich schon Igel. Immer! Manchmal sechs, sieben. Teilweise Fundtiere, bei denen es geheißen hat: »Der hat auf der Straße gelegen.« Aber eine Igelfamilie war ganz was besonderes. Und zwar hat mein Enkel damals – sieben, acht Jahre ist das jetzt her – im Baumarkt gearbeitet. Da gab’s draußen in einem Schuppen so Mähmaschinen. Und dort war ein Igel drunter. Mein Enkel hat mich angerufen: »Oma, darf ich dir den bringen? Wir haben kein Wasser, wir haben kein Futter, der Igel liegt auf dem Betonboden ...« Hab ich gesagt: »Freilich.«

Also ist er gekommen um neun auf d’ Nacht, nach der Arbeit. Und das war ein ganz heißer Tag. Ich hab den Igel zuerst in einen großen Meerschweindlkäfig rein – einsvierzig lang –, weil ich mir gedacht hab: »Wenn ich ihn draußen im Garten laufen lass’: Der findet ja kein Futter; der kennt sich ja nicht aus ...« Außerdem wollt’ ich schauen, ob er verletzt ist und ob er überhaupt frisst. Das hat man ja alles nicht gewusst. Er war einfach nur eine dicke, feste Kugel. Hat ungefähr tausend Gramm gewogen. Also ein großer Igel. Aber eingerollt bis zum Gehtnichtmehr. Normalerweise ist so ein Igel entweder tot – oder ihm fehlt überhaupt nix und er will sich nur verstecken. Weil, ein kranker Igel macht in der Regel auf. Der liegt da, man sieht das Gesicht, er ist schwach ... Aber dieser Igel war stark und hat schöne Stacheln gehabt. Also habe ich ihm Futter rein und Heu und ein Häuserl und hab ihn stehenlassen.

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Am nächsten Tag hab ich mir gedacht: »Jetzt schaust’ mal« – weil er immer noch nicht aufgemacht hat –, »wenn du ihn in warmes Wasser legst, macht er vielleicht auf.« Aber er hat auch im Wasser nicht aufgemacht. Hab ich überlegt: »Mei« – man hat auch kein Blut gesehen –, »lässt’ ihn halt mal in Ruh’.«

Ein Igerl hat seinen Spaß dran gehabt, dass es die Geschwister untern Bauch fasst und umschmeißt. Das ging ganz schnell. Die lagen hinterher am Rücken

Am übernächsten Tag war’s noch das Gleiche. Aber wie ich am Nachmittag wieder schau, geht der Igel rum – und ist schlank. Deswegen habe ich gewusst: »Der hat Babys gekriegt. Darum hat er so zugemacht!« Dann wollt’ ich aber in das Heu und in das Häuserl nicht reinschaun und hab ein paar Tage gewartet. Weil, der Igel hat schön gefressen, ist wieder ins Häuserl rein ... Nach ein paar Tagen hab ich doch geschaut. Und hab gesehen: Zwei Weiberl waren’s und zwei Manderl. Jedes vielleicht vier Zentimeter und mit noch ganz weichen, fast weißen Stacheln. Und da hat sie, die Igelmutter – ich hab sie nachher Helene getauft –, mich natürlich geschimpft; weil ich reingeschaut hab. Sag ich: »Mei, du hast aber hübsche Kinder.« Hab sie gelobt und wieder in Ruhe gelassen.

Nach ein paar Tagen hat sie mich schon am Familienleben teilhaben lassen; war überhaupt nicht mehr scheu. Ich hab Grasbüschel mit Erde ins Gehege reingetan, Steine, Laub, Hölzchen, einen ausgeschnittenen Schuhkarton zum Durchgehen – und wie die Kleinen achtzig Gramm waren, sind sie raus aus dem Häuserl und sind auch rumgegangen; diese kleinen Wutzeln. Mit neunzig Gramm fangen sie dann an, dass sie mitfressen. Bei mir haben sie meistens Katzenkinderfutter und Rührei gekriegt ...

Und dann war das Aufziehen so eine Freude für mich! Ein Igerl hat seinen Spaß dran gehabt, dass es die Geschwister untern Bauch fasst und umschmeißt. Das ging ganz schnell. Die lagen hinterher am Rücken. Ich dachte zuerst, der Schlawiner ist einer von den zwei Manderln – nein, es war ein Weiberl.

Und wie sie ein paar hundert Gramm hatten, hab ich sie im Garten freigelassen; mit der Mama. Die sind dann noch einige Zeit dageblieben; aber irgendwann sind sie doch mehr und mehr in die anderen Gärten gewandert. Nur ein Weiberl, das ist uns treu geblieben. Die ist immer zur Tür reinmarschiert, hat geschaut, was’ gibt. Hab ich gesagt: »Was tust du denn schon wieder da?« Einmal hat’s geregnet gehabt und sie war ganz trocken. Sag ich: »Du hast da irgendwo geschlafen. Weil, sonst wärst du nicht so trocken.« Dann hat sie mich angeschaut mit ihren Knopfaugen. Aber sehr selbstbewusst. So quasi: »Ja, freilich!«

Nach einiger Zeit hab ich gemerkt, dass’ allweil unters Sofa geht – und eine Zeitung mit reinzieht. Was ich recht unpraktisch gefunden hab, weil das Sofa nur sehr kurze Füße gehabt hat. Der Igel hat drunterschlüpfen können. Aber man hat’s nicht saubermachen können. Also haben wir als Erstes festgestellt: »Wir brauchen ein anderes Sofa! Und das muss hohe Füße haben.« Nur, so was gibt’s heut’ kaum noch. Die haben alle niedrige Füße. Sind wir ins Möbelhaus, hab ich gesagt: »Das Sofa muss so groß sein, dass ein Mann und ein Hund oben Platz haben und ein Igel unten drunter passt.« – »Jaja.« Die haben wahrscheinlich gedacht: »Bissel narrisch.« Im Endeffekt haben sie eines gehabt. Und das haben wir gekauft.

Dann hab ich aber schon gemerkt, dass sie auch wieder Babys kriegt. Und das geht natürlich nicht unterm Sofa. Hab sie in den Einsvierzig-Käfig rein ... Da war sie sehr wütend. Die fauchen ja dann und hüpfen, stellen ihre Stacheln auf und sind gleich doppelt so groß. Aber tatsächlich hat sie – weil ich noch überlegt hab: »Vielleicht täuschst du dich, vielleicht kriegt sie gar keine Babys«, sie war ja noch jung – drei Babys gekriegt. Drei Buben. Und nach ein paar Tagen hat sich das auch gelegt mit der Aufregung und ich durfte die Babys umeinandertragen und im Käfig saubermachen. Ich hab sie dann Helga getauft. Weil ich eine ganz liebe, treue Freundin hab, die am gleichen Tag Geburtstag hat wie ich – und die heißt auch Helga.

Also hab ich diese Babys auch noch mit aufgezogen – mit ihr zusammen; hab die Babys rausgelassen; sie ist zuerst ebenfalls wieder gewandert; war aber doch die meiste Zeit bei uns im Garten. Ich mein’, sie hätt’ auch ganz fortgehen können. Durchschlupfmöglichkeiten hätt’s genug gegeben. Nein, sie hat gesagt: »Ich bleib da und ich wohn da.«

Also haben wir wieder miteinander die Babys aufgezogen; und insgesamt drei Jahre miteinander verbracht

Dann hab ich sie sogar in Winterschlaf gelegt. Weil sie wieder im Haus war. Sag ich: »Nein, du bist zu groß.« Wir haben draußen einen großen Schuppen gehabt; da hab ich sie rein; sie hat sich alles zurecht gemacht; hat da überwintert ... Im Frühling hab ich sie wieder rausgelassen. Aber im Mai oder Juni war’s wieder das Gleiche: Sie kommt rein, baut unterm Sofa ihr Nest ... Hab ich sie wieder in den Käfig; sie hat wieder Babys gekriegt – das war glaub ich ein gemischter Wurf, Manderl und Weiberl, das weiß ich jetzt gar nicht mehr –, sag ich: »Helga, du machst mir Spaß! Du machst mir allweil Arbeit.« Weil, in der Natur hätte sie die Babys gesäugt und wär’ wieder gegangen. Aber aus dem Käfig konnt’ sie ja nicht raus. Hab ich ihr also immer das Türl aufgemacht, hab sie rausgelassen ... Nach ein paar Stunden ist sie wieder gekommen, hat aber nicht in den Käfig reinkönnen; der ist ja hoch. Dann hab ich sie kratzen gehört. Musst’ ich sie wieder in den Käfig reinheben ... Und so haben wir das ganze Spielchen auch dieses Jahr wieder gemacht.

Im dritten Jahr ist sie zuerst gar nicht gekommen. Hatt’ sich ganz vertrollt. Sag ich eines Tages: »Ja, Helga, du bist ja doch da!« Denk ich mir: »Hat die heuer keine Babys gekriegt?« Und ich hab halt drüben ein Tierzimmer. Da sind damals Meerschweinderl drin gewesen. Oder verletzte Tauben. Oder auch meine Hasen. Bei der Nacht. Beim Tag waren die alle draußen. Und eben auch ein paar leere Ställe. Und Zeitungen. Und da hatt’ sie sich – weil sie ja nicht in den Käfig reinkönnen hat – eine Zeitung geholt und hatt’ die Babys richtig schön eingewickelt. Zufällig habe ich das gesehen. Denk ich: »Was sind denn da für Zeitungen? Die hab ich doch gar nicht hingetan.« Und sie war aber wieder fort. Weil, das hat ihr gerade getaugt. Spazierengehen! Die Jungen waren aufgeräumt ...

Hab ich mir gedacht: »Nein! Natürliche Auslese! Ich mach jetzt nix!« Aber dann hab ich’s doch nicht fertiggebracht. Weil, der Boden ist ja kalt. Also hab ich die Babys auch wieder in den Käfig rein; und eine Wärmematte drunter, damit sie wieder warm werden ... Dann hatt’ ich mir gerade Katzenmilch hergerichtet, damit ich die Babys fütter’ – auf einmal kommt sie wieder daher. Sag ich: »Aber jetzt schnell rein zu deinen Kindern!« Da war ich richtig sauer.

Also haben wir wieder miteinander die Babys aufgezogen; und insgesamt drei Jahre miteinander verbracht. – Manchmal, wenn’s mir zu viel war und das Aufziehen schon erledigt war, hab ich sie rausgetan ... Bis ich geschaut hab, war sie beim anderen Eingang wieder drin. Aber wenn sie dann wochenlang nicht kommt, sagst’ natürlich auch: »Mei, ob sie wohl noch lebt?« – Auf einmal war sie wieder da. Hat draußen am Gang rumgescheppert mit allem möglichen; geschaut, ob noch irgendwo Futter ist. Weil, sie hat sich ja ausgekannt. Sie war auch verständiger als andere Igel. Hat immer alles untersucht und überall mitgemischt. Wie wenn sie kein Igel wäre. Sondern – was weiß ich – ein Hund oder so was.

Manchmal, wenn ich Besuch gehabt hab: »Da geht gerade ein Igel vorbei.« Sag ich: »Ja, das ist meine Helga.« Oder eine andere Freundin – sie sitzt auf dem Klo, und dann kommt da ein Igel rein. Sag ich: »Ist meine Helga.« Die hat sich nicht vertreiben lassen. Die hätte ich schon ganz wegbringen müssen. Aber das hätte ich nicht fertiggebracht. Warum auch? Es ist ja schön, wenn man das alles verfolgen kann. Und dadurch war das so eine intensive Igelerfahrung, dass ich’s in meinem ganzen Leben nicht vergessen werde. Wie einem ein Wildtier so vertraut werden kann! Das war am Schluss eine richtige innige Freundschaft. Wie man’s vielleicht nur einmal erlebt. Und ich glaub, andersrum war’s genauso. Ich mein’, man kennt’s dem Igel ja an: Er ringelt sich nicht ein; er ist einfach da. Er hat gesagt: »Ja, du darfst mich auch nehmen. Du darfst das alles mit mir machen. Wir sind Freunde.« Und das war schön. Das hat – bei den vielen Igeln, die ich gehabt hab – grad noch gefehlt; dass man so einen auch erlebt. So eine treue Seele.

Aber dann hat sie Lungenwürmer gekriegt – die’s bei Igeln oft gibt, weil sie nicht mehr genug Insekten finden und deshalb Schnecken und Würmer fressen müssen, die Lungenwürmer übertragen. Die muss sie auch schon länger gehabt haben. Aber weil sie ja frei war, hab ich’s erst gemerkt, als sie wiedergekommen ist. Die husten dann immer; weil sie die Würmer natürlich loshaben möchten. Da haben wir schon gemerkt: »Das wird nix mehr.« Und daran ist sie im Endeffekt gestorben. Sie ist jetzt da vorn im Garten begraben. Manchmal geh ich zu ihr hin; sag ich: »Mei, Helga, war das eigentlich schön mit dir! Aber anstrengend!«