Tom Putzgruber aus Salzburg betreibt den Tierschutzverein RespekTiere.
Unser Verein hat Tierärzte in Nouakchott, der Hauptstadt Mauretaniens. Die fahren jeden Tag an verschiedene Wasserstellen, um sich dort um die Arbeitsesel zu kümmern. Und ein- bis zweimal im Jahr sind wir selbst vor Ort, um das Team zu unterstützen. Allein in Nouakchott gibt’s schätzungsweise hunderttausend Arbeitsesel. Die arbeiten von früh bis spät, jeden Tag, und ziehen Lasten von bis zu einer Tonne.
Es gibt da diese Eisenkarren – und ich hab gesehen, wie die mit Zwanzig-Liter-Kübeln Farbe beladen wurden. Am Schluss waren fünfzig Stück drauf! Noch dazu sind das in Mauretanien eher kleinere Esel. Sie ziehen also diese Karren, die schon allein extrem schwer sind, die alte Autoreifen drauf haben, überwiegend ohne Luft, dann sitzt auch noch ein Fahrer hinten oben – und das Schlimmste: Sie haben ein gerades Gestänge. Wenn das einen Bogen machen würde, würde es schon viel weniger auf den Esel drücken. Aber so wie es ist, entstehen dadurch und durch das schlechte Geschirr, das meistens selbst mit Drähten zusammengeflickt ist und bei jedem Schritt scheuert, die furchtbarsten Wunden.
Dazu kommt, dass die Leute dort aus irgendeinem Grund auf die Esel einschlagen. Andauernd. Monoton. Ich habe schon beobachtet, dass die Esel im Stau stehen, mit der Nase an der Stoßstange von einem Auto, und der Fahrer schlägt immer wieder runter. Und zwar nicht nur ein bissel, sondern richtig. Vielleicht aus einer Lethargie heraus. Oder aus einer Hoffnungslosigkeit. Die Lage in dem Land ist ja brutal. Es ist eines der ärmsten Länder der Welt. Was auch der Grund ist, warum fast alles mit Eseln transportiert wird. Für’s Baugewerbe. Für die Wasserversorgung – weil es sogar in der Stadt kaum Wasserleitungen gibt.
Und das ist natürlich alles eine extreme Beanspruchung für die Tiere. Gefüttert werden sie fast nur mit Karton. Da gibt’s extra Leute, die den ganzen Tag nur Karton zerkleinern. Und das wird den Eseln in den Futtersack reingegeben; weil sie – anders als Pferde – die enthaltene Zellulose verwerten können. Ansonsten werden sie abends losgelassen, damit sie im Müll nach was anderem zu Essen suchen können.
Und da habe ich einmal eine Geschichte erlebt – da tu ich mir ein bissel schwer, sie zu erzählen, weil’s mir einfach zu nahe gegangen ist. Und zwar waren wir ganz in der Früh auf dem Weg zu einer der Wasserstellen. Unser einheimischer Tierarzt Dr. Dieng hatte uns von unserer Herberge abgeholt. Auf dem Weg unterhält man sich halt meistens über den kommenden Tag. Welche Wasserstellen wir anfahren, ob sie tief im Sand liegen oder relativ zugänglich. Solche Dinge. Und ich habe da immer eine Kamera mit und mach – meist aus der offenen Schiebetür, weil’s da so heiß ist – eher unbewusst ein paar Fotos, die ich mir abends am Computer anschaue. Aber aus irgendeinem Grund hab ich diesmal unmittelbar aufs Display geschaut – und habe gesehen, dass da ein Esel neben der Straße liegt und ein anderer Esel danebensteht. Wegen diesem zweiten Esel ist mir das Ganze überhaupt erst aufgefallen. Denn solche Situationen – dass ein Esel neben der Straße liegt – sind da so häufig, dass man mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass er tot ist. Aber irgendwie hab ich gesagt: »Drehen wir um und schaun wir uns den Esel an.«
Dann haben wir allerdings, schon als wir hingekommen sind, gesehen: Dem liegenden Esel steht der Fuß weg. Richtig in einem Bogen. Wirklich grauenhaft. Und der andere steht daneben, schleckt ihm den Fuß und will ihn immer so ein bisschen zum Aufstehen bewegen, indem er ihn mit der Nase anstupst.
Jetzt ist aber so ein Bruch – das war ein offener Bruch vom Vorderfuß, unterhalb vom Knie, wahrscheinlich war er angefahren worden – in so einem Land ein sicheres Todesurteil. Wobei Dr. Facharani, das ist ein Tierarzt aus Deutschland, der uns auch nach Mauretanien öfter begleitet, hinterher zu mir gemeint hat, dass der Esel wahrscheinlich auch in Österreich oder Deutschland nicht mehr zu retten gewesen wäre.
Das Erstaunliche, oder sagen wir Gewöhnungsbedürftige, ist halt nur, dass so etwas in solchen Ländern fast niemanden kümmert. Der Esel ist gleich neben der Straße gelegen, fast in der Straße drin; da sind ständig Autos vorbeigefahren, ein paar Meter weiter waren Bauarbeiter damit beschäftigt, Sand auf LKW zu verladen; aber so was berührt dort niemanden. Ich glaube, weil es so alltäglich ist. Weil solche Sachen dauernd passieren. Jeder hat da selber so zu kämpfen, dass man das Unglück von anderen nimmer so nahe ranlassen kann.
Deswegen hat’s mich auch – wie gesagt – viel mehr gewundert, dass der zweite Esel überhaupt da gestanden ist. Dass er die Möglichkeit dazu hatte – und nicht arbeiten musste. Noch dazu war das ein gesunder Esel, wirklich ein schöner Esel, ohne Wunden, ohne alles! Man muss auch bedenken, dass Esel in Mauretanien eine Grundscheu vor Autos und auch vor Menschen haben. Weil sie von beiden nie was Gutes erfahren. Ich hab dort noch nie einen Esel gesehen, der freiwillig hergekommen ist. Selbst wenn du hingehst und irgendwelche Delikatessen für ihn hast, Karotten oder so etwas, er wird nichts nehmen. Selbst wenn er ausgehungert ist, wird er so weit zurückgehen, wie er zurückgehen kann – wenn er angebunden ist, so weit das Seil reicht. Das hat dieser zweite Esel alles nicht getan. Er ist dann zwar ein bisschen auf die Seite gegangen, hat aber immer genau geschaut, was wir machen.
Wir haben seinen Freund zuerst ein bissel von der Straße weggerückt und haben überlegt, was wir tun sollen – aber dann übereinstimmend gesagt, wir müssen so schnell wie möglich Sterbehilfe leisten, denn das geht nicht anders. Jetzt ist es aber zum einen so, dass Narkosemittel zum Einschläfern in Mauretanien schwer aufzutreiben sind. Zum anderen muss man sich darüber klar sein, dass da sogar in einer Großstadt wie Nouakchott, nix verborgen bleibt. Das ist wie ein Dorf. Um einen Esel einschläfern zu können, muss man wissen, wem er gehört, sonst gibt’s irrsinnige Schwierigkeiten; der Besitzer erfährt unweigerlich, wer das gemacht hat und kommt dann mit immensen Forderungen, die wir – wie übertrieben sie auch sind, und das sind sie immer – begleichen müssen; weil wir uns in so einem Land, wenn wir dort weiterhin Tiere behandeln wollen, an die Regeln halten müssen. Denn sonst werden wir dort nicht mehr arbeiten dürfen.
Deshalb haben wir gesagt, am einfachsten ist es, die Polizei zu rufen, damit die den Esel erschießt, und haben dann mit dem Chef dieser Bauarbeiter dort am Straßenrand geredet – der auch recht schnell versprochen hat, sich um alles zu kümmern und uns anzurufen, sobald alles geregelt ist.
Hinter dem Eselmarkt gibt’s ein Feld, wo du – ich weiß nicht – hundertfünfzig tote Esel liegen siehst. Dieses Feld wird alle paar Monate umgepflügt. Mit Bulldozern. Und kurz darauf ist der Platz schon wieder voller toter Esel.
Und dann sind wir schweren Herzens weitergefahren. Haben den Vormittag über an der Wasserstelle gearbeitet – einfach unsere übliche Arbeit da: Spritzen gegeben, Wunden versorgt, Hufe geschnitten. Was bei Eseln ein großes Problem ist, sind die Hufe. Wir beschäftigen in Mauretanien einen Hufschmied. So etwas war vorher unbekannt. Also haben wir eine österreichische Hufschmiedin mitgenommen, die ein paar Leute ausgebildet hat; weil viele Esel allein wegen der Hufe sterben müssen. Die sind so verwachsen, dass die Esel irgendwann nimmer gehen können. Und sobald sie nimmer gehen können, werden sie zum Sterben zurückgelassen. Es gibt da einen sogenannten Eselmarkt. Das ist ein extrem furchtbarer Platz. Dort kommen die Leute hin, holen sich neue Esel – und bringen die alten, ausrangierten mit; lassen sie einfach stehen. Die verhungern, verdursten, haben keine Chance. Hinter dem Eselmarkt gibt’s ein Feld, wo du – ich weiß nicht – hundertfünfzig tote Esel liegen siehst. Dieses Feld wird alle paar Monate umgepflügt. Mit Bulldozern. Und kurz darauf ist der Platz schon wieder voller toter Esel.
Jetzt ist aber bis mittags kein Anruf von dem Bauarbeiterchef gekommen. Also haben wir gedacht: »Beim Zurückfahren schauen wir noch mal hin« – haben aber schon von Weitem gesehen, dass der eine Esel immer noch dort steht und aufpasst.
Also haben wir seinen Freund zuerst mit ein paar Leuten noch ein paar Meter wegbewegt, haben aber bald festgestellt, dass wir’s nicht mehr aushalten, ihn so leiden zu sehen. Und Dr. Dieng hatte halt schon vorher erwähnt, dass er einen Bekannten hat, der in der einzigen Apotheke arbeitet, die dieses Mittel zum Einschläfern haben könnte. Und dieser Bekannte kommt gegen Mittag zur Arbeit. Wie wie aber dort hingefahren sind, hat’s geheißen: »Nein, der kommt heute nicht, der ist krank.«
Letztendlich hat’s bis vier Uhr gedauert, bis dieser Bekannte veranlasst hatte, dass wir das Mittel kriegen. Also sind wir das nächste Mal zur Apotheke gefahren – aber eine halbe Stunde gar nicht reingekommen, weil gerade Gebetsstunde war. Da darf man dann überhaupt nicht stören. Und schließlich – endlich! – haben wir das Mittel bekommen. Sind zu den Eseln hingefahren. Aber auf einmal war’s so, dass Dr. Dieng das Mittel erst verabreichen wollte, wenn sichergestellt ist, dass der Esel danach sofort abtransportiert wird – weil’s anscheinend in Mauretanien viele Menschen gibt, die frisch gestorbene Tiere essen! Einfach, weil die Not da so groß ist. Und wenn der Esel durch das Mittel vergiftet ist, ist das natürlich gefährlich.
Dann haben wir lange, lange, lange nach einer Transportmöglichkeit gesucht. Es ist schon finster geworden. Und der andere Esel ist immer noch dort gestanden. Er ist jetzt auch gar nimmer weggegangen. Und irgendwie hat’s dann endlich funktioniert, dass der Besitzer des verletzten Esel ausfindig gemacht worden ist. Er hatte sogar so ein Tuk-Tuk-Fahrzeug, mit drei Rädern und einer Ladefläche hinten. Aber dann mussten wir erst ewig mit ihm verhandeln. Sozusagen, was es uns kostet, wenn er seinen eigenen Esel abtransportiert! Das war natürlich besonders ernüchternd. In solchen Momenten weiß man, dass man völlig ausgeliefert ist. Wenn er gesagt hätte: »Ihr macht’s jetzt gar nix. Ihr lasst meinen Esel da liegen«, hätten wir das auch akzeptieren müssen.
Und dadurch hat sich das alles noch weiter hingezogen. Sicher bis sieben, halb acht. Inzwischen sind viele Leute ringsherum gestanden. Und ein paar wollten – ich hab das ein bissel zu spät gemerkt – den verletzten Esel aufs Tuk-Tuk heben. Sie hatten ihn schon gepackt, haben am Bein herumgezerrt, ihn aufgestellt, er ist natürlich sofort wieder eingeknickt. Da haben wir uns dann wirklich strikt dagegen gewehrt!
Viele Leute wissen das nicht, aber ein Problem ist auch, dass Esel ihre Schmerzen kaum zeigen. Man hat natürlich gemerkt, dass er Schmerzen hat – ist ja klar. Er hatte die Augen weit offen. Die Pupillen ganz groß. Das sind halt diese typischen Anzeichen. Aber äußerlich war er relativ ruhig, relativ gelassen, hat nur immer wieder den Kopf leicht gehoben und hat sich von dem anderen tätscheln lassen; der hat ihn ein bisschen angeknabbert – wie’s halt Esel machen, in ihrer Zärtlichkeit.
Irgendwann haben die Leute ihn aber doch ein bissel weggetrieben. Und so langsam hat man schon gemerkt – normalerweise stehen sie, wenn wir ein Tier behandeln, zusammen herum. Da wird gescherzt und gelacht und es ist laut. Und diesmal war das zuerst auch so. Aber je länger das gedauert hat, sind sie immer ruhiger geworden und waren wirklich betroffen.
Dr. Dieng hat dann vorbereitend Ketamin gespritzt. Das ist ein Betäubungsmittel. Und man hat da schon gemerkt, dass der Esel sich auch innerlich ein bissel entspannt. Ich habe ihm den Kopf auf meinen Schoß gelegt, bin dann dort gesessen, habe hin und wieder zurückgeblickt – und da ist der zweite Esel ungefähr fünfzehn Meter entfernt zwischen zwei Fahrzeugen gestanden und hat mit hängendem Kopf beobachtet, was passiert. Und das hat mir ungemein leid getan. Ich habe immer gehofft, er geht jetzt oder ist schon weg. Aber jedes Mal, wenn ich mich umgeschaut habe, war er noch da.
Und schließlich – endlich! – konnte Dr. Dieng dann angefangen, über einem kleinen Gaskocher dieses Pulver zu brauen; mit Atemschutzmaske, weil die Dämpfe extrem giftig sind. Inzwischen war’s dunkel und Abendverkehr und die zweispurige Straße war zu einer vierspurigen Straße geworden – die Sandpiste daneben zur normalen Fahrspur –, weswegen Dr. Facharani während der ganzen Prozedur ein paar Meter vor uns bei der Straße gestanden ist, sonst wäre der Esel – weil er am Boden lag und leicht übersehen werden konnte – vielleicht noch mal zusammengefahren worden.
Und dann kam eben das Mittel. Das muss man direkt ins Herz spritzen. Der Arzt beugt sich drüber. Ich habe dem Esel weiter den Kopf gehalten. Und trotz der Betäubungsspritze, die er schon bekommen hat, versteift sich sein ganzer Körper, es schüttelt ihn. Dr. Dieng musste, drei- oder viermal diese Spritze befüllen und reinstechen. Und das ist halt schon sehr grausig.
Irgendwann habe ich wirklich bitter geweint, habe ihn aber bis zum letzten Atemzug gehalten. Dr. Facharani hat ihn noch abgehört, damit man sichergeht, dass er wirklich tot ist. Dann bin ich aufgestanden und weggegangen, weil ich alleine sein wollte. Und da ist ein dunkelhäutiger Junge hergekommen, der schon die ganze Zeit nebenbei gestanden ist – so um die zehn Jahre alt – und hat mich umarmt. Das hat mich dann, trotz allem, irrsinnig gefreut.
Wir haben den Esel schließlich aufgeladen – und als wir weggefahren sind, habe ich noch mal zurückgeschaut. Der andere ist noch immer auf dem Platz dort gestanden, zwischen den Autos, und hat’s, glaube ich, an der Stelle wirklich registriert, dass er jetzt alleine ist. Das war dann fast herzzerreißend. Und das ist auch das Ungewöhnlichste an dieser Geschichte. Weil es in diesem Land normalerweise keine Esel gibt, die den ganzen Tag nichts zu tun haben und die noch dazu nicht gekennzeichnet sind. Das kommt ja noch dazu: Weil sie des Nachts freigelassen werden, damit sie im Abfall nach Essen suchen können, werden sie von den Menschen gekennzeichnet. Das ist oft eine ganz brutale Maßnahme. Entweder wird ein Ohr abgeschnitten, ein halbes Ohr, ein ganzes Ohr, beide Ohren, das wird gespalten, es werden Zeichen in den Esel reingeritzt, damit die Leute bestätigen können, dass es ihrer ist. Und dieser Esel hatte keine solche Zeichnung. Ich habe manchmal schon gedacht, ob er irgendeine Erscheinung, ein Engel in Eselgestalt war, der einfach gekommen ist, um dieses schreckliche Los des anderen ein bisschen abzumildern.