Während meiner zehn Jahre in Kanada habe ich bei verschiedenen Wolfsprojekten mitgearbeitet. In ganz unterschiedlichen Landschaften und Kulturen. Bei einem Projekt in den Rocky Mountains habe ich einen Wissenschaftler von der Universität Victoria näher kennengelernt. Der war gerade dabei, ein Forschungsteam zum Thema Küstenwölfe zusammenzustellen und fragte mich, ob ich da mitarbeiten will. Damals war ich noch Biologiestudentin, hab noch ein Semester in Salzburg vor mir gehabt und deshalb gesagt: »Ich bin dabei; aber ich will erst mein Studium fertigmachen.« Das hat dann auch alles gut gepasst; ich bin als frischgebackene Biologin nach Kanada zurückgeflogen und habe daraufhin jahrelang an der Küstenwolfstudie mitgearbeitet.
Nach vier Jahren kam ein Anruf vom ZDF. Sie wollen da einen Film drehen. Zwar hat’s damals – 2004 – bereits einen Film von National Geographic über Küstenwölfe gegeben, aber das ZDF wollte halt was Eigenes machen und hat mich erst mal nach Mainz eingeladen; das war zu Weihnachten, weil ich da eh in Österreich war. Und letztlich, nach einigen Gesprächen und Telefonaten, hieß es: »Okay, im Herbst schicken wir eine Kamera-Crew.« Und: »Gudrun, bitte scoute mal vorab. Schau mal, an welchen Stränden oder Flussmündungen wir eine Chance haben, Küstenwölfe zu filmen.«
Ich hab mich dann drei, vier Wochen vorher auf die Suche gemacht und auch bald etwas Passendes gefunden – das war fast wie in der Karibik: weißer Sandstrand, offenes Meer in Richtung Westen … Dort hab ich mich jeden Tag um dieselbe Zeit auf denselben Stein gesetzt, sodass ich für die dort lebenden Wölfe langsam Teil ihrer Umwelt und dadurch vorhersehbar war. Das ist bei Wölfen wichtig. Überraschungen mögen die nicht. Und so haben sie sich an mich gewöhnt und mich akzeptiert.
Natürlich hab ich gedacht: »Gut, das passt. Das funktioniert.« Und als ob sie es gewusst hätten! – einen Tag, bevor das Kamerateam kam, waren sie alle weg. Dann hab ich mir gedacht: »Scheiße! – Entschuldigung – was tu ich jetzt?« Ich hab ja sonst nirgendwo gescoutet. Ich kannte keinen anderen Platz.
Ich habe gedacht: »Das ganze Projekt, das können wir schmeißen. Weil zufällig find’st da nix.«
Am nächsten Tag kam mit dem Wasserflugzeug das Kamerateam eingeflogen. Bestehend aus einem BBC-Filmer mit seinem Soundmann. Ich habe fast einen Herzinfarkt gekriegt, als ich die Ausrüstung gesehen habe: die große Kamera, das schwere Stativ. Noch dazu hatten sie nur zwei Wochen Zeit einkalkuliert, weil sie geglaubt haben, sie müssen nur aussteigen ... Vor allem der BBC-Mann. Der kam aus Südafrika. Der kannte die Serengeti, wo du bis zum Horizont nur drei Bäume hast und mit einem guten Tele noch immer eine Nahaufnahme kriegst. Aber die kanadische Westküste – das ist Regenwald. Dichter als am Amazonas. Bis ans Meer. Allein schon die Küstenlänge ist irrwitzig. Das ist eine ganz zerklüftete Inselwelt. Und die vielen Fjorde! Also, ich hab Bauchweh gehabt. Ich habe gedacht: »Das ganze Projekt, das können wir schmeißen. Weil zufällig find’st da nix.«
Aber wir haben natürlich trotzdem versucht, unseren Auftrag zu erfüllen. Wir waren mit dem Schiff unterwegs und hatten da einen ganz tollen Skipper. Jean-Marc, einen französisch sprechenden Kanadier; auf allen Weltmeeren unterwegs. Ein schräger Typ. Und sein Boot: sensationell! Die Tilsup. Das ist ein einheimischer Name für Tintenfisch. Die hatte Jean-Marc sich selbst gebaut. Die war so was von wendig. Konnte in die tiefsten Fjorde fahren. Und ich hab dann halt – zunehmend verzweifelt – versucht, die Kameraleute ein bissel zu unterhalten. Hab ihnen gezeigt: Da ist eine Grizzlybär-Spur. Verschiedene Losungen. Damit wir zumindest irgendwas im Kasten haben.
Aber unser Plus war: Jean-Marc war natürlich vernetzt mit allen Fischern an der ganzen Küste. Irgendwann kriegen wir den Anruf: »Tilsup, wir haben gerade Wolfsgeheul gehört.« Und zwar war das auf einer Insel weiter Richtung offenes Meer. Wölfe sind ja sehr gute Schwimmer. Ich hab selber mal auf einer Insel, die zwölf Kilometer vom Festland entfernt war, eine Wolfslosung gefunden. Da muss also ein Wolf zwölf Kilometer übers Meer geschwommen sein. Noch dazu im Nordpazifik, der extrem wild ist, extrem kalt.
Wir sind dann sofort zu dieser Insel gefahren, von der das Geheul gekommen war. Und ich hupf vom Boot und sehe eindeutig frische Wolfszeichen. Das heißt: Frische Losung, frischer kill – zerknackte Hirschknochen und so weiter.
Dann ging’s auf eine einsame Wiese an einem Fluss. Das Gebiet war wirklich abgelegen. Ich hab gleich gesehen: Okay, die Wölfe halten sich da auf. Es ist alles zertrampelt gewesen. Deswegen hab ich mir gedacht: »Jetzt warten wir dort einmal.« Hab mir ein Versteck gesucht – und wirklich, nach kurzer Zeit, kamen sechs erwachsene Wölfe aus dem Wald. Wobei durch den Fluss klar war: Sie warten auf Lachs. Denn zu der Zeit, im September, ist dort der Lachszug. Da ziehen Millionen von Lachsen die Flüsse hinauf, in ihre Geburtsflussläufe, wo sie schon von allen möglichen Landtieren und vielen Greifvögeln erwartet werden. Natürlich auch von Wölfen.
In diesem Fall war es so, dass die Lachse sich schon draußen vor der Bucht versammelt hatten, um dort auf den nächsten Regen zu warten, der sie in den Fluss spülen und auch den Temperaturunterschied zwischen Fluss und Meer ausgleichen sollte. Bis es so weit war, haben die Wölfe gespielt und sich Schwarzbeeren von den Büschen heruntergezupft. Das heißt auch, für mich war mehr oder weniger klar: Sie sind hungrig! Aber dann musste ich dran denken, was einer von den Heiltsuk-Indianern, der der Scout von unserem Forschungsteam war, gesagt hat. Unser Teamleiter, Chris, wollte immer, dass wir Tarnkleidung tragen, damit uns die Tiere bloß nicht entdecken. Also sind wir meistens erdfarben herumgerannt. Und unser Indianer kam mit einem neon-orangen Overall. So richtig: Puff! Und Chris hat ihn gefragt: »Ja, wieso das?« Da sagt er: »Wölfe sind ehrliche Tiere. Du möchtest ja auch nicht, dass sich jemand an dich anschleicht.« Deswegen habe ich mich da ganz offen auf die Wiese gelegt; hab dann am Abend, bevors langsam dunkel wurde, noch beobachtet, dass die Wölfe – es war ja ein ganzes Rudel –, eines von den älteren Tieren von der Wiese verjagt haben. Und bald darauf sind alle weggelaufen – und nicht mehr zurückgekommen, bis es dunkel war.
Nur haben sie halt ein Junges gehabt, das nicht nachgekommen ist. Deshalb war ich mir sicher: Die kommen auf jeden Fall zurück. Denn wenn da ihr Junges ist, werden sie es auch wieder holen.
Das Kamerateam ist dann über Nacht zurück zur nächsten Bucht, wo Jean-Marc geankert hatte. Das war mir auch fast lieber. Ich hab nur gesagt: »Bringts mir bitte in der Früh einen heißen Kaffee.« Und dann hat’s so zu regnen angefangen! Ich war im Biwaksack, total durchnässt und kalt und habe hin und wieder das verwaiste Junge heulen gehört – sehen konnt ich’s nicht, denn es war schwarz und die Nacht wirklich pitschdunkel – und, tja, irgendwann bin ich dann doch eingeschlafen.
Man denkt ja oft, der Leitwolf ist der Boss. Aber er ist in erster Linie der, der körperlich stärker ist. Die Frechere oder die Bestimmtere, vom Charakter her, ist die Leitwölfin. Die wichtigen Entscheidungen trifft sie.
Das Nächste, was ich mitgekriegt habe, war, dass die Sonne gekommen ist. Der Regen hat aufgehört. Die aufgewärmten, trockenen Kameramänner waren wieder da, haben schon ihre Kamera aufgebaut in einiger Entfernung ... Und was dann passiert ist – das kannst du nicht planen, darauf kannst du nicht hoffen, das kannst du nicht einmal erträumen: Ich war immer noch bei dem gleichen Spot. Bin mitten auf der Wiese gesessen. Hab immer wieder mit dem Fernglas den Waldrand abgescannt; aber hab trotzdem erst gar nicht gesehen, dass da was aus dem Wald rauskommt. Das hat mir erst hinterher der Kameramann gezeigt. Es war die Leitwölfin. Und gleich danach kam ein schwarzer Wolf. Der Leitrüde.
Und die beiden haben sich jetzt langsam angenähert. Wobei er sich sehr nach ihr gerichtet hat, immer wieder zu ihr rübergeschaut hat. Die First Nations, wie die Einheimischen oder die Indianer in Kanada genannt werden, leben ja sehr verbunden mit dem Wolf. Bis hin zu Ähnlichkeiten in der Familienstruktur. Die besteht aus einem Matriarchat wie bei den Wölfen. Man denkt ja oft, der Leitwolf ist der Boss. Aber er ist in erster Linie der, der körperlich stärker ist. Die Frechere oder die Bestimmtere, vom Charakter her, ist die Leitwölfin. Das sieht man immer wieder: Die wichtigen Entscheidungen trifft sie. Und diese zwei sind jetzt näher und näher gekommen.
Und man hat ja manchmal intuitive Eingebungen. Zuerst bin ich gesessen. Aber dann habe ich gedacht: »Ich glaube, jetzt würde es passen, wenn ich mich hinlege.« Auch wenn ich gewusst habe, dass eine unserer menschlichen Waffen – Waffen in dem Sinn, dass wir damit in gewisser Weise für Wölfe unattraktiv werden – die aufrechte Haltung ist. Denn die passt nicht in ihr Beuteschema und schon werden wir ein bissel abgehakt.
Eine andere Waffe sind unsere Ausdünstungen. Wölfe haben eine viel feinere Nase als wir. Und wenn man bedenkt, was wir im Lauf unseres Lebens zusammenfuttern, auch an Chemie: Für die Wölfe stinken wir. Aber ich war halt zu dem Zeitpunkt schon lang im Regenwald. Hab fast nur Lachs gegessen. Von daher waren meine Ausdünstungen sicher nicht so extrem wie von jemandem, der gerade von McDonald’s kommt.
Und schlussendlich: unser Intellekt. Der sollte uns eigentlich auch helfen. Aber indem ich mit dem Hinlegen meiner Intuition gefolgt bin, habe ich auch diese Waffe abgelegt.
Trotzdem war die Leitwölfin weiter vorsichtig. Ich hab gesehen, dass sie im Zwiespalt war. Während ihr Schwanz ihre Verunsicherung angezeigt hat, hat sie intensiv an mir rumgeschnüffelt. Sie wollte wirklich wissen, was für ein Wesen da plötzlich in ihrem Wohnzimmer sitzt oder – in dem Fall – liegt.
Ich weiß noch: Ich kann sie riechen. Ich spüre den weichen Boden, der mit jedem ihrer Schritte vibriert – das ist so ein richtig mit Wasser vollgesoffener Boden –, und dann spüre ich ihre Barthaare in meinem Gesicht. Alles war extrem ruhig. Es gab kein Knurren – das Einzige: Sie hat mich einmal ein bissel provoziert. Und zwar, indem sie gescharrt hat. Sie wollte testen, was ich tue – oder umgekehrt gesagt: Sie wollte mir zu verstehen geben, dass das ihr Revier ist; denn das ist ein territoriales Zeichen, wenn Wölfe mit dem Vorderlauf scharren.
Aber ich hab darauf nicht reagieren müssen. Denn mir war klar: Es geht um gegenseitiges Vertrauen. Ich kann ja nur dem Ding oder Lebewesen vertrauen, mit dem ich mich beschäftigt habe. Von dem ich ein bissel was weiß. Und ich glaube auch, dass, wenn man spürt: da schenkt mir wer Vertrauen – da mache ich jetzt keine Unterschiede zwischen Mensch und Tier –, dann macht mich das stark, und dann brauche ich keine Ersatzhandlungen auszuführen; zum Beispiel solche, die auf Aggression aufbauen. Ich muss nicht angreifen. Weil ich weiß, ich bin stark.
Und deshalb hat die Leitwölfin mich – nach einiger Zeit, in der nur sie und der Leitrüde in der Nähe waren – für ungefährlich befunden und grünes Licht für ihren Nachwuchs gegeben. Worauf die drei Einjährigen aus dem Wald gekommen sind.
Und das war halt etwas, was ich bis dato nicht kannte. Dass Wölfe nahe an mich herankommen, das kannte ich. Entweder, weil sie an mich gewöhnt waren, so wie das Rudel ein paar Wochen zuvor, oder weil Wölfe dort, wo sie Menschen nicht erwarten, durchaus richtige Träumeleins sein können. Sie haben nicht, so wie wir glauben, ständig alle Sinne offen und erkennen und erschnuppern alles sofort. Es ist mir oft passiert, dass sie, wenn der Wind anders gestanden ist, direkt auf mich zugelaufen sind, während ich sie schon lange gesehen hab. Aber dass sie mich derart zügig akzeptieren, ohne lange Gewöhnung, nur durch Begutachtung, das war für mich neu. Mein Gefühl für Zeit war in dem Moment schon komplett weg. Alle anderen Sinne, alle neuronalen Verbindungen, haben nur so gefeuert. Aber der Zeitsinn – wenns so was gibt –, war total weg. Ich wusste nicht mehr, wie lange ich da sitze. Irgendwann hatte ich mich nämlich aufgesetzt – langsam, alles langsam –, was auch gleich registriert wurde. Die Wölfe haben kurz innegehalten und zu mir rübergeschaut. Aber das war gleich wieder okay.
Die Einheimischen an der Westküste hatten mir erzählt, dass die älteren Frauen oft neben den Grizzlybären Beeren sammeln und dabei mit ihnen reden
Ich bin überhaupt nur deswegen aufgestanden, weil ich gemerkt habe, dass es schon wieder dunkel wurde – und ich wusste, dass Wölfe dann frecher werden. Weil sie einfach viel besser sehen als wir; und ich fang dann vielleicht an zu stolpern, mache – im Empfinden der Leitwölfin – eine plötzliche Bewegung, und dann kann sie nicht anders als anzugreifen. Sie hat nicht mehr die Möglichkeit, sich im Rahmen der klassischen Fight-or-flight-Reaktion zu entscheiden. Sie hat nicht mehr die Wahl zwischen Flüchten und Angreifen. Ich bin einfach zu nah.
Deswegen hab ich gedacht: »So, das lassen wir jetzt lieber«; hab mich ein bissel aufgerichtet und dabei – wie auch vorher schon – ständig mit ihr geredet. Vielleicht auch mit mir selber. Einfach so in die Luft geredet. »Hey, it’s all good. Sorry, that I’m here. Don’t worry.« Die Einheimischen an der Westküste hatten mir nämlich erzählt, dass die älteren Frauen oft neben den Grizzlybären Beeren sammeln und dabei halt mit ihnen reden.
Und dann bin ich – ganz langsam! – weggekrochen, fast auf allen vieren, mit meinem Rucksack hinten drauf; bloß nicht aufrecht; da hätte ich’s für möglich gehalten, ich verstöre sie, da wäre ich einfach zu andersartig gewesen. Das wäre wieder dieses Überraschungsmoment gewesen, das der Wolf nicht mag. Und deshalb: runde Bewegungen! Hab immer weiter vor mich hin geredet: »Ich geh jetzt«, »weil’s halt spät ist« und »ich seh jetzt dann bald nix mehr«. Und so weiter.
Die Kameraleute haben in diesem Moment echt Angst um mich gehabt. Sie haben immer wieder überlegt, was sie tun können, wenn die Wölfe mich anfallen. Haben aber gemerkt: Sie sind zu weit weg. Da war der Fluss dazwischen. Und dann noch einmal eine Wiese und schließlich der Wald, in dem sie versteckt waren. Aber das Interessante war, dass sich für mich alles ganz anders angefühlt hat. Weil einfach jeder Schritt – alles, was die Wölfe gemacht haben – ihre eigene Entscheidung war. Und ich hab sie durch mein Verhalten nicht zu anderen Entscheidungen gedrängt. Weil ich ihnen vertraut habe. Im Endeffekt ist das also eine Geschichte von Vertrauen. Und von Einsicht. Und das ist für mich das Wertvollste, was ich aus dieser Begegnung mitgenommen hab: dass Wölfe, die wahrscheinlich noch nie Erfahrungen mit Menschen gemacht haben – weder im Positiven noch im Negativen –, uns wohlgesonnen sind. Dass sie uns gegenüber nicht aggressiv sind. Oder uns als Beutetier ansehen.